Kommissar Joakim Hill - 02 - Die Frau im Schatten
hinterließ auf der hochwertigen Tapete einen leicht schmierigen Abdruck wie von einem Siegel und rollte weiter. Bis es schließlich auf dem Marmorboden vor einem der verschnörkelten Sockel liegen blieb.
Malin starrte kurz auf das Praliné und streckte sich augenblicklich danach wie nach einem schönen, aber leider verflossenen Traum. Die Bewegung geschah so ruckartig, dass ihr Kopftuch sich löste und herunterglitt und das ebenfalls mahagonifarbene Haar locker über ihre Wangen fiel.
Doch Susanna war schneller.
»Stopp, stehen bleiben! So ist es gut, und nun immer mit der Ruhe. Stell dich ein wenig weiter nach hinten und halte die Hände so, dass wir sie sehen können. Okay, bleib dort stehen!«
Es schien zweifellos absurd, einem Kind Handschellen anzulegen, doch Susanna hatte allen Grund zur Vorsicht. Jede Spur des sonst so ansteckenden Lachens, das Hill an ihr so mochte, war aus ihrem Gesicht gewichen, als sie den Mechanismus des Schlosses betätigte und die Hände des Mädchens gefesselt waren.
Man hatte es hier weder mit einer ungezogenen Lotta aus der Krachmacherstraße noch mit einer Pippi Langstrumpf, die an Bord geht, zu tun. Nein, das junge Fräulein Nilsmed hatte bereits ihr eigenes Kapitel in der schwedischen Geschichte des Verbrechens geschrieben. Und doch war sie ein jämmerlich verschrecktes kleines Mädel mit staksigen Beinen, das sich verwirrt fragte, was eigentlich um sie herum vorging und warum die Dunkelheit sie nicht länger in Schutz nahm, wie so oft zuvor.
Wer ist hier eigentlich das Opfer, dachte Susanna in einem Anflug von Mitleid. Die Erfahrung zwang sie jedoch, ihren Mutterinstinkt umgehend zu verdrängen. Denn es herrschte nicht der geringste Zweifel daran, wozu dieses unberechenbare Wesen fähig war, und es gab genügend Gründe, froh zu sein, dass endlich alles vorbei war.
Sobald Hill sich mit einem Blick über die Diele versichert hatte, dass Susanna die Lage unter Kontrolle hatte, konzentrierte er sich auf die Frau am Boden.
Berit Nilsmed war auf dem persischen Teppich auf die Knie gesunken. Sie ließ den Kopf hängen und schniefte hilflos, während ihr blutiger Speichel auf die kostbare Wolle tropfte. Die auf dem wertvollen Bodenbelag dargestellte Kriegsszene färbte sich wirklichkeitsgetreu in effektvoller und zugleich unheimlicher Weise rot.
Er hockte sich neben sie auf den Boden. »Es tut mir Leid …«, sagte er und legte entschuldigend seine Hand auf ihre Schulter, die sich im Takt ihrer Schluchzer hob und senkte. »… aber ich konnte nichts anderes tun. Sie wären tot, wenn Sie es in den Mund genommen hätten. Und zwar auf der Stelle. Genau wie Anne Smitt und Ihr Ehemann.«
Zu seiner Verwunderung spürte er, wie sie ihren Kopf an seine Brust lehnte. Sie schien zu verstehen, und er legte beide Arme um ihre Schultern und zog sie mit sich vom Boden hoch. Sie verharrte eine Weile an ihn gelehnt und weinte ihre hilflose Trauer an seiner weichen Jacke aus.
Schließlich fasste er mit einer entschlossenen Bewegung ihr Kinn, hob ihren Kopf und schaute ihr verweintes Gesicht an. Er hatte ihre Oberlippe an der schwächsten Stelle verletzt, genau dort, wo sie durch den Schlag ihres Mannes geplatzt war. Sie blutete noch immer und hatte begonnen anzuschwellen. Berit Nilsmed schniefte, und Hill reichte ihr sein sauberes Taschentuch.
Er kam sich vor wie in einer klassischen Filmszene. Die Vorstellung, für einen kurzen Augenblick in die Rolle von Clint Eastwood zu schlüpfen, verlieh ihm die Kraft, sie eindringlich anzuschauen.
»Sie wären gestorben, Frau Nilsmed. Innerhalb von Sekunden – verstehen Sie mich?«
Jetzt sah sie ihm zum ersten Mal in die Augen, schluchzte noch einmal, nickte dann aber. »Ja«, versicherte sie ihm. »Ist schon okay.«
Er war froh, trotz des spontanen Verständnisses Susanna und Beckman als Zeugen dabei zu haben. Für den Fall, dass sie die Dinge zu einem späteren Zeitpunkt völlig anders sehen würde und ihn persönlich zur Rechenschaft ziehen wollte.
Er führte sie behutsam zu einer der römischen Chaiselonguen im Eingangsbereich und setzte sich eine Weile neben sie, während er über sein Handy Verstärkung anforderte.
Berit Nilsmed beruhigte sich langsam.
Sie schaute zu ihrer Tochter hinüber, die immer noch ängstlich auf dem Boden saß und verständnislos auf ihre viel zu plumpen Armbänder starrte.
Berit Nilsmed sah ihre Tochter an, wie sie es nie zuvor getan hatte.
Sie?
Sie, die sie vor langer Zeit einmal gestillt hatte. Sie, die ihr
Weitere Kostenlose Bücher