Kommissar Joakim Hill - 02 - Die Frau im Schatten
sollte sie nun weitermachen?
Nun, sie musste wohl oder übel solange an den Baumkronen weitersticken und sich an einem anderen Tag dem Flachs widmen.
Der Hund betrachtete sein Herrchen mit einem unergründlich prüfenden Blick, bevor er zu seinem gewohnten Platz auf dem Teppich im Korridor trabte und es sich dort bequem machte. Es war angenehm kühl dort, und der leichte Zug vom Treppenaufgang fuhr ihm erfrischend in das dichte Fell. Er seufzte tief – alles war Gott sei Dank wieder sicher und wohl bekannt.
Der Mann wusste, dass seine Frau nicht eher, als bis die Stiche vor ihren Augen verschwammen, zu Bett gehen würde. Sie war jedes Mal derart in ihre Stickerei versunken, dass es unmöglich war, sie zu stören. Als ließe sie die Wirklichkeit hinter sich und verschwände gleichsam in der verzaubernden Welt der Stickkunst.
Vielleicht war das ihr Sicherheitsventil? Die Möglichkeit zu nutzen, sich in die Muster und Landschaften, die unter ihren Händen entstanden, hineinzuträumen. Manchmal schien sie sowohl intensiver als auch glücklicher damit zu sein als im Zusammenleben mit ihm.
Doch das Leben hatte seinen eigenen Gang, und er klagte nicht. Ganz abgesehen davon, wie es einmal zwischen ihnen gewesen war, konnte man kaum erwarten, dass sich keine eintönigen Gewohnheiten einschleifen und ihre betagte Ehe bestimmen würden. Stattdessen schätzte er immer mehr die kleinen Dinge. Wie beispielweise, in aller Ruhe früh zu Bett zu gehen.
Obgleich er doch auch sein eigenes kleines Ventil hatte, oder etwa nicht?
Gerade deswegen hatte ihn am späten Abend die Wirklichkeit mit unheimlicher Wucht eingeholt. Just in dem Moment, als der Schlaf am verlockendsten gewesen war, durchlebte er erneut die Geschehnisse des Abends, jetzt allerdings völlig unerwartet in Form von Blitzlichtern, die unbarmherzig in seine Hirnrinde eindrangen.
Er fuhr zusammen, während ihm der kalte Schweiß ausbrach. Plötzlich war er gegen seinen Willen hellwach. Draußen ging ein spärlicher Winterwind, der schwermütig heulend über die undichten alten Fensterrahmen strich, und er hatte das Gefühl, dass es bald schneien würde. Er stand auf und schaute nach, doch er konnte lediglich feststellen, dass die winterkahlen Bäume, die den Gehweg säumten, vom Wind hin und her gewogen wurden.
War es denn wirklich so, dass keine Verbindung zwischen ihnen – zwischen ihm und der toten jungen Frau – existierte?
Die Dunkelheit zwang ihn unvermittelt, seine persönlichsten Gedanken zu überprüfen.
Stimmte es tatsächlich mit der Wahrheit überein, dass ihn heute Abend der bloße Zufall ihren Weg kreuzen ließ? Warum war er dann angesichts ihres Schicksals so bodenlos traurig?
Er wies die Frage von sich und ging auf kalten Füßen zurück zum Bett. Unter der Decke war es warm und gemütlich, und trotzdem lag er wach und wälzte sich. Versuchte, eine Zeit lang auf der anderen Seite zu liegen, doch die Hüfte schmerzte arg, und er würde sich auf die Dauer sowieso nicht den eigenen Gedanken entziehen können.
Die innere Stimme fuhr fort, ihn zu verfolgen und zu plagen.
Hatte er nicht in Wirklichkeit die Polizei angelogen?
Nein, gelogen hatte er nicht.
Nicht?
Er griff nach dem Kissen und bearbeitete es mit der Faust, um ihm mehr Volumen zu verleihen. Drehte sich auf den Rücken.
Vielleicht hatte er, wenn man es genau betrachtete, einen Teil der Wahrheit für sich behalten. So weit, so gut. Aber gelogen hatte er nicht!
Er starrte mit aufgerissenen Augen, jedoch ohne etwas zu erkennen, an die nächtlich schwarze Zimmerdecke, während die Stimme weiter in seinem Unterbewusstsein bohrte.
Und dass er es absichtlich unterlassen hatte, alles, was er wusste zu berichten – alles, was für die Ermittlungen von Bedeutung sein konnte –, war das keine Lüge?
Nein.
Inzwischen war er schweißgebadet. Fühlte sich eingeengt in seiner Pyjamajacke. Das Atmen fiel ihm schwer, und das Kissen, das er gerade aufgeschüttelt hatte, war vom Schwitzen feucht geworden. Die Stimme ließ ihm keine Ruhe.
Wirklich nicht?, beharrte sie.
Vielleicht war es Täuschung, aber in diesem Fall eine Täuschung, ohne zu lügen. So viel konnte er zugeben. Doch keiner würde jemals seinen … Schwindeleien auf die Schliche kommen.
Wirklich keiner?
Nein, denn wer konnte ihn schon gesehen haben …?
Ihn gesehen – sie gesehen?
Ja.
Vielleicht jemand, der wie er selbst Ausschau gehalten hatte. Genau so einer wie er selbst, als er sie beim Spionieren beobachtete.
Aber
Weitere Kostenlose Bücher