Kommissar Morry - Das Phantom
herunter!" forderte er das Mädchen auf. Sie gab keine Antwort, schloß das Fenster und blickte verstört in ihrer Kammer umher. Mit schlurfenden Schritten tastete sie sich zu ihren geordnet auf einem Stuhl liegenden Kleidern hin. Kopflos hantierte sie daran herum. Ihre Finger zitterten so heftig, daß sie sich kaum ankleiden konnte. Ihre Gedanken sprangen gehetzt durcheinander.
Als Susan Bexter endlich Dan Marcher an diesem nebligen Morgen gegenüberstand, sah sie bleicher denn je aus. Verstört und furchtsam blickte sie den alten Mann an. Keine Silbe brachte sie über ihre blutleeren Lippen.
„Komm Mädel!" sprach Dan, und schweigsam folgte Susan dem vorauseilenden Mann.
Zwei Sekunden später ertrug sie das Schweigen nicht länger. Ihr gequältes Herz verlangte Gewißheit: „Onkel Dan, — was ist mit Mat? — Lebt er?"
„Beruhige dich, Mädel. Deinem Mat geht es gut."
„Gott sei Dank!" brach es befreiend aus ihr heraus. Ihre Spannung löste sich allmählich und machte dicken Tränen Platz. Glänzend rollten sie an ihren Wangen entlang. Als sie sich kurze Zeit danach wieder einiger» maßen erholt hatte, bereitete Dan Marcher das Mädchen auf das Eintreffen in seiner Behausung in der Prestage-Street vor.
„Er hat unwahrscheinliches Glück gehabt, Susan", beendete er die Ausführungen. „Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der nach solch einer Auseinandersetzung mit dem Killer noch so munter war wie dein Mat."
„Bitte höre auf, von dieser Bestie zu sprechen, Onkel Dan. Ich kann nicht mehr länger diesen Namen hören. Gib mir lieber einen Rat, was nun werden soll! Ich meine morgen und in der Zukunft?"
„Was werden soll, Mädel?" hielt Dan Marcher die Frau an der Schulter zurück und legte eine kurze Verschnaufpause ein. „Alles wird gut werden für euch beide. Ich habe dir ja schon vor einigen Tagen gesagt, daß für dich und Mat das Leben erst jetzt beginnen wird. Und was Dan Marcher einmal verspricht, das hält er auch."
„Es wäre zu schön. Doch wie willst du das machen, Onkel Dan?"
„Nicht so neugierig sein, kleine Miß", meinte der alte Mann scherzhaft. „Ich weiß was ich will, und so wird es auch geschehen."
Den Rest des Weges legten die beiden Menschen einsilbig zurück. Einsilbig deswegen, weil Dan Marcher durch nichts zu bewegen war, auch nur ein einziges Wort von seinem Vorhaben preiszugeben. So erreichten sie Dan Marchers Zimmer, in dem Mat Heflin einen kraftspendenden Schlaf hielt. Noch einmal mußte Susan Bexter all ihre physischen Kräfte zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien, als sie in Dans Zimmer trat und ihren Mat mit kreideweißem Gesicht in den Kissen liegen sah. Sie hatte das Liebste, was sie auf dieser Erde noch besaß, seit über drei Jahren nicht mehr gesehen. Jetzt stand sie dem Manne gegenüber, dessen einstmals jugendliches Gesicht gereift und hohlwangig war. Liebevoll streichelte sie das Gesicht Mat Heflins. Viele der früheren Züge waren trotz der qualvollen Vergangenheit des Mannes erhalten geblieben und Susan Bexter bereute keinen Moment, drei nicht wiederaufzuholende Jahre ihres Lebens auf diesen Mann gewartet zu haben.
12
An diesem Morgen hatte sich Kommissar Morry hinter die Akten des Falles „Phantom" verschanzt. Auf den Heftern stand jedoch nichts. Sie waren noch leer und sollten erst später den Namen des Täters, des Mannes, der im Augenblick noch als Phantom in den Köpfen der Männer von der Morant-Street geisterte, tragen. Die sonst stets offene Tür zu Kommissar Morrys Zimmer im Sonderdezernat Scotland Yard war heute verschlossen. Brookers hatte ein Schild mit der Aufschrift „Anmeldung nächstes Zimmer" angefertigt und es an die Außenseite zu Kommissar Morrys Zimmer geheftet. Jeder der zu Morry wollte, mußte gewissermaßen durch
eine Art Vorzimmer. Hier saß aber Brookers, Morrys Faktotum und wachte scharf darüber, daß sein Chef nicht unnötigerweise gestört wurde. Die Beamten vom Dezernat bekamen Morry an diesem Vormittag nicht zu sehen. Selbst Captain Smiths, der mit Kommissar Morry sein alltägliches Plauderstündchen abhalten wollte, wurde von Brookers, wie man so schön sagt, abgewimmelt. Für Brookers, der den Captain nicht ausstehen konnte, war es ein besonderes Vergnügen, dem unnahbaren und stets untergeordneten Dienstgraden auf Distanz achtenden Officer auf diese Weise eins auszuwischen. Daß er dabei etwas übertrieb, als er dem Captain erklärte, Kommissar Morry wünsche auf keinen Fall und von keiner Person
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