Kommissar Morry - Die Todesstrasse
beabsichtigten Spaß, den er mit dem sonderbaren Kauz dort hinten in der Ecke vor hatte, würde er nicht durchführen können.
Schon war er versucht, das eigenartige Benehmen der Burschen hier, die sich so plötzlich von ihm distanzierten, herauszufordern. Doch noch rechtzeitig besann er sich eines Besseren, und er unterließ es, seine Wut in irgendeiner Form an dem Alten auszulassen.
„Ich werde wohl umlernen müssen!" Er begann mit rauer Stimme sein beabsichtigtes Unternehmen zu bagatellisieren.
„Früher duldeten wir es nicht, daß man uns einen gutgemeinten Drink abschlug. Da konnten sich keine Burschen hier aufhalten, die wie mit einem Heiligenschein am Tisch saßen. Teufel, wie weich müßt ihr geworden sein, daß ihr nicht einmal mehr einen Spaß vertragen könnt."
„Das können wir, Hugh!" erwiderte einer der Männer neben ihm.
„Aber wenn du erst einmal mit dem Philosophen' gesprochen hast, wird es dir nicht anders ergehen als uns. Du wirst dann genauso wie alle hier keine Lust mehr verspüren, dem Mann zu nahe zu treten. Er hat ein verdammt schweres Päckchen zu tragen! Und deshalb wollen wir nicht, daß sich einer über ihn lustig macht!"
„Also nichts als Gefühlsduseleien“, höhnte noch einmal Hugh Martiway. Er wurde aber sogleich eines anderen belehrt.
„No, keineswegs! Aber lassen wir das jetzt, später wirst du uns schon recht geben."
Damit wandte sich der Sprecher ab und begann mit hastigen Zügen sein spendiertes Glas zu leeren.
Doch Hugh Martiway, der brutale Gangster aus einer, wie er glaubte, besseren Zeit, gab sich mit diesen für ihn nichtssagenden Erklärungen der Leute nicht zufrieden. Er beschloß, diesen Sonderling, für den fast alle Anwesenden Partei ergriffen hatten, sich einmal genau anzusehen.
Sogleich setzte er sich in Richtung des .Philosophen' in Bewegung. Mißtrauisch fühlte er die Augen der am Tresen Zurückgelassenen auf sich gerichtet. Spöttisch verzogen sich seine schmalen Lippen, als er vor dem Tisch des Alten haltmachte:
„Na, Alter?" Mit diesen Worten ließ er sich auf einen Stuhl neben dem Philosophen' nieder. Es scherte ihn wenig, daß einige der Burschen, die soeben noch seinen Schnaps getrunken hatten, eine lauernde Haltung einnahmen. Fast augenblicklich ebbte der Lärm in der ,Red Latem' ab. Klar und deutlich konnte nun jeder die Worte Hugh Martiways verstehen.
„Ich hörte", fuhr er, nachdem der .Philosoph' nur kurz aufgeblickt hatte und dann seinen Kopf wieder in seine faltigen Hände legte, mit lauter Stimme fort, „daß man dich hier den ,Philosophen' nennt? — Darf man erfahren, wie du zu diesem Namen gekommen bist?"
Wieder blieb es still. Keine Silbe kam über die Lippen des Befragten. Hugh Martiway hatte den Eindruck, als schliefe der Alte.
„Hm, freundlich bist du nicht gerade", begann er erneut auf den alten Mann einzureden.
Nur langsam bewegte sich der Kopf, auf den Hugh Martiway unentwegt starrte. Eine hohe Stirn, die tausend kleine Falten aufwies, wurde sichtbar. Immer besser konnte der Gangster das Gesicht des ,Philosophen' sehen. — Dann traf ihn der Blick aus zwei hellen, grauen Augen. Ein eigenartiges Gefühl befiel den Zuchthäusler.
„Ein Mensch verdient nur soviel Beachtung, wie er in Wirklichkeit wert ist!"
Hugh Martiway zuckte bei den Worten des ,Philosophen" zusammen, als habe er einen Peitschenschlag bekommen. Im ersten Impuls wollte der Verhöhnte hochfahren und die Worte des Alten auf seine Art erwidern. Doch irgendeine geheime Macht hielt ihn auf seinem Sitz nieder. Wie aus weiter Ferne vernahm er dann die weiteren Worte des Greises: „Nun, da Sie sich nun einmal zu mir gesetzt haben, zürne ich Ihnen wegen Ihrer Überheblichkeit nicht. Im Gegenteil, ich werde versuchen, Ihre Handlungsweise zu verstehen. Bitte, welche Fragen haben Sie an mich zu richten?"
Noch nie in seinem bisherigen Leben, ein Leben voller Untaten und Gemeinheiten, war Hugh Martiway so sprachlos und erstaunt, wie in diesem Moment, als er in der schmierigen Kaschemme von Millvall diesem greisen Mann gegenübersaß. Obwohl es in seinem Inneren nur so tobte, brachte er keine einzige Silbe über seine Lippen, geschweige denn einen sinnvollen Satz. Und so tat er das, was er in Anbetracht seiner Niederlage nur noch tun konnte, er erhob sich schweigend von seinem Stuhl und verließ den Tisch des ,Philosophen'.
Erst viel später erinnerte er sich wieder an die hämisch grinsenden Gesichter der Herumstehenden und begann, seinen Groll mit Alkohol zu
Weitere Kostenlose Bücher