Kommissar Morry - Die Woelfe
ein paar Herzschläge lang, bevor sie den Weg in die dunkle Tiefe antrat. Das eiserne Schott gab ihrem Druck sofort nach. Es knarrte kreischend in den Angeln. Im Innern des Stollens brannte Licht. Zwei nackte Glühbirnen erhellten den Weg. Aus der hintersten Schleusenkammer klang leises Stimmengemurmel. Dazwischen ein dumpfes Summen, als liefe eine schwere Maschine. Daisy Horway ging neugierig dem Geräusch nach. Sie hielt nicht eher an, bis sie die letzte Schleusenkammer erreicht hatte. Betroffen blickte sie in den betonierten Raum hinein. Sie sah die Notenpresse, sie sah die Lords bei ihrem verbrecherischen Tun. Die Banknotenbündel blieben ihr nicht verborgen. Ganze Stapel schichtete Fred Hilltopp gewissenhaft auf dem Tisch auf. Hinter ihm stand ein Fremder. Er war stämmig und muskulös. In seinem teigigen Gesicht brannten ein Paar steckende Augen.
„Deine Brieftasche, Fred“, rief Daisy Horway mit heller Stimme in den engen Raum hinein.
Sie hatte kaum die Lippen geöffnet, da fuhr Judd Bramas auch schon ruckartig herum. Seine Augen weiteten sich in grenzenlosem Erstaunen. Über sein teigiges Gesicht lief ein nervöses Zucken. Er wurde fahl wie ein schmutziges Handtuch.
„Was will das Mädchen hier?“, kreischte er aufgebracht. „Zum Teufel, seit wann kann denn hier jeder in diesem Stollen herumspazieren? Warum ist niemand draußen auf Posten?“
„Ich hätte eigentlich heute Wache“, murmelte Sandy Harley schuldbewußt. „Ich sollte jetzt draußen stehen, Sir. Aber mir war den ganzen Tag schlecht. Auch jetzt ist mir noch hundeelend zumute.“
Daisy Horway sah zwei Augen auf sich gerichtet, in deren Tiefe der Tod zu wohnen schien. Nackt und brutal drohten ihr diese Augen den Untergang an. Sie hatte zuviel gesehen. Sie war eine Gefahr. Und draußen floß die Themse vorüber. Ganz nahe. Keine drei Yard entfernt. Daisy Horway war nicht umsonst in Busters Hafenasyl großgeworden. Sie witterte die tödliche Gefahr wie ein gehetztes Tier. Sie fühlte die drohende Atmosphäre in jedem Nerv. Hastig warf sie die Brieftasche auf den Tisch. Dann lief sie hinaus, ohne sich um die Zurufe der Lords zu kümmern.
„Bleib doch, Daisy!“, schrie ihr Fred Hiltopp nach. „He, wart noch einen Moment! Mr. Bramas will mit dir reden. Komm zurück!“
Daisy Horway dachte nicht daran, noch einmal in diese düstere Höhle zurückzukehren. Sie lief, so rasch sie die Füße trugen. Erschöpft hetzte sie durch die ödflächen. Dornige Ranken hakten sich an ihr fest. Wuchernde Büsche griffen nach ihr. Nasse Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Sie achtete nicht darauf. Sie rannte weiter. Sie lief an den Gas Works vorüber und hielt auf die Elms Station zu. Zu ihrem Glück fand sie eine Taxe vor dem einsamen Bahnhofsgebäude. Erschöpft taumelte sie auf den Mietwagen zu.
„Nanu, Fräulein?“, wunderte sich der Fahrer. „Wo kommen Sie denn her? Sie sehen ja aus, als hätten Sie ein paar Nächte lang im Freien übernachtet.“
„Halten Sie keine langen Reden, junger Mann“, stammelte Daisy Horway atemlos. „Fahren Sie los! Ich habe das Gefühl, als wäre eine ganze Meute hinter mir her.“
„Wohin?“, fragte der Chauffeur trocken. „Wohin soll ich fahren, Madam?“
Daisy Horway überlegte angestrengt. Sie fühlte sich elend und zerschlagen. Unglücklich starrte sie durch die Windschutzscheibe. Ein banges Gefühl schnürte ihre Brust ein. Es erging ihr wie immer, wenn sie nicht mehr weiter wußte. Richard Cromwell fiel ihr ein. Er war schließlich ihr Bewährungshelfer und es war seine Pflicht, sich um sie zu kümmern.
„Fahren Sie nach Westminster“, stieß sie schnaufend hervor.
„Halten Sie am Russell Square!“
Der Chauffeur nickte respektvoll. Der Russell Square, das war eine andere Gegend als dieses finstere Brachland hier hinter den Gas Works. Er ließ den Motor an. Er schaltete auf rasche Fahrt. Der Wagen überquerte die Themse, bog in die Lupus Street ein und erreichte schon kurze Zeit später das vornehme Stadtviertel am St. James Park. Vor dem Haus Richard Cromwells stieg Daisy Horway aus und bezahlte den Fahrpreis. Mit raschen Schritten ging sie kurz nachher auf das verschlossene Gartentor zu. Wieder drückte sie aus Leibeskräften auf die Glocke. Wieder behielt sie den Finger auf dem Knopf, bis der grauhaarige Diener erschien.
„Gott steh mir bei!“, hauchte der Alte, als er sie sah. „Sind Sie etwa wieder betrunken, Miss Horway? Sie bringen nichts als Schrecken über mein Haupt und über dieses
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