Kommissar Steen 01 - Unruhe
Abend durchgehen, wenn Emma im Bett lag, und den Stand der Dinge in Ruhe zusammenfassen.
Auf dem Weg in sein Büro warf er einen Blick in die KSN – jene spezielle Kommandozentrale, die sich um größere Unfälle, Demonstrationen, Straßenkämpfe und Besuche amerikanischer Präsidenten kümmerte. Sie war voll besetzt, obwohl der Tanz auf den Straßen noch gar nicht begonnen hatte.
Es war Konsens, dass die eigentliche Räumung des Jugendzentrums als geglückt bezeichnet werden konnte, denn weder auf Seiten der Demonstranten noch unter den Einsatzkräften war jemand ernstlich zu Schaden gekommen. Aber der Rest war alles andere als ein Erfolg. Mittlerweile waren gut zweitausend Beamte damit beschäftigt, die Stadt einigermaßen unter Kontrolle zu halten, und obwohl regelmäßig Übungen durchgeführt worden waren und Pläne und Konzepte ausgearbeitet bereitlagen, hatte niemand damit gerechnet, dass sich die Unruhen so explosiv in der Stadt ausbreiten und an so vielen verschiedenen Stellen aufflammen würden. Während die Kollegen die Barrikaden auf der Nørrebrogade wegräumten, hatten kleine Gruppen schwarz gekleideter und sehr mobiler Aktivisten in zwölf verschiedenen Straßen des Viertels Autos angesteckt und Straßenfeuer entfacht. Gleichzeitig war eine kleinere Volksmenge in Christianshavn in ein Gymnasium eingedrungen und hatte Unterrichtsmaterialien, Computer und Fernsehgeräte im Wert von mehreren Millionen Kronen zerstört – alles, ohne dass dafür im Vorhinein Anzeichen zu erkennen gewesen wären.
Das Volk hatte die Straße in Besitz genommen.
Es war halb vier, als er Emma abholte, wie immer mit schlechtem Gewissen, weil er sich so wenig um sie kümmerte. Es wurde nicht besser, als die Kindergärnterin ihn beiseitenahm undfragte, ob er fünf Minuten Zeit habe. Sie mache sich Sorgen, da seine Tochter müde sei und viel vom Tod und von Leuten spreche, die umgebracht worden seien. Könne das etwas mit seiner Arbeit zu tun haben? Sie hoffe, er verstehe, dass ein so kleines Mädchen nicht so viel wie ein Erwachsener verarbeiten könne. Er versprach, mit seiner Exfrau darüber zu sprechen, was die Pädagogin anscheinend zufriedenstellte. War er die Nummer eins in den Top Ten der Rabenväter? Vielleicht.
Dann machte er sich auf den Weg in Emmas Gruppe. Es war nicht ideal, aber er hatte keine Wahl, wenn er sie nicht das ganze Wochenende lang Cecilie überlassen wollte – allein der Gedanke erfüllte ihn mit einer hochexplosiven Mischung aus schlechtem Gewissen gegenüber seiner Tochter und Wut gegenüber ihrer Mutter, weil er seit der Scheidung ohnehin schon viel zu oft auf Emma hatte verzichten müssen. Und nun wollte sie morgen zu Besuch kommen. Axel hatte das Gefühl, dass es noch um ganz andere Dinge bei dem Besuch ging als um das Vorbeibringen neuer Gummistiefel. Er musste aufhören, sich in irgendwelche Fantasien zu steigern. Was, wenn sie auf andere Gedanken gekommen war? Was, wenn sie nun …
Er entdeckte Emma im hintersten Raum, wo sie mit zwei anderen Mädchen an einem Tisch saß und malte.
Axel ging zu dem Tisch, und Emma sah auf.
»Papa!« Ihre Augen leuchteten. »Ich habe ein Eichhörnchen für dich gemalt.«
Er ging hinter ihrem Stuhl in die Hocke und schob den Kopf über ihre Schulter, sodass seine Nase in ihrem Haar verschwand. Er hatte Lust, für immer in diesen Duft einzutauchen.
Auf dem Bild war ein kleines Eichhörnchen an einem Baumstamm zu sehen.
»Das ist ein Eichhörnchen, das auf einen Baum klettert, drüben am Friedhof. So wie das, das wir gesehen haben, als wir letztes Mal da waren.«
Einen kurzen Augenblick sah Axel die Leiche Enver Davidis vor sich, bevor ihm ihr letzter Spaziergang am Friedhof wiedereinfiel, bei dem Emma die Eichhörnchen gezählt hatte, die ihnen über den Weg gelaufen waren, dreiundzwanzig.
Emma wirkte gar nicht müde, sondern freute sich ganz im Gegenteil auf Kino und Pizza. Zuerst musste sie aber am Friedhof vorbei – »spielen wir Verstecken, Papa, so wie sonst immer?« –, um festzustellen, was BB inzwischen noch herausgefunden hatte. In der Dämmerung passierten sie den Rådhuspladsen, wo hinter einem offenen Lastwagen mit Lautsprechern, aus denen Musik pumpte, eine neue Demonstration Gestalt annahm. Die Anzahl der Festnahmen während der letzten zweieinhalb Tage hatte die Fünfhundertermarke überschritten, aber Axel ging davon aus, dass sich alles ein wenig beruhigen würde. Stark besetzte Einheiten waren fast den gesamten
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