Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
bei der Therapeutin. Es war zehn Minuten vor sechs, und er hatte Glück. Dr. Karin Wittmann ging persönlich ans Telefon.
»Meißner, Kripo Ingolstadt. Ich hätte eine Frage zu einem Ihrer Patienten, Herrn Freyberg.«
»Sie müssten wissen, Herr …«
»Meißner«, half er ihr aus.
»Herr Meißner, dass wir Psychotherapeuten genauso der Schweigepflicht unterliegen wie andere Ärzte auch.«
»Ich möchte auch keine Details über Herrn Freybergs Krankheiten oder Probleme erfahren, sondern nur wissen, ob er am letzten Dienstag um sechzehn Uhr bei Ihnen war.«
»Ich behandle nicht Herrn Freybergs Krankheiten, wie Sie das nennen. Was wir machen, nennt sich Krisenintervention. Es geht um eine akute Lebenskrise, nicht um psychosomatische Beschwerden oder Ähnliches.«
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Ja, natürlich war er hier. Hat er das nicht gesagt?«
»Frau Dr. Wittmann, war die Stunde am Dienstag irgendwie anders als sonst? Ist Ihnen etwas an Ihrem Klienten aufgefallen? War er besonders nervös, aufgeregt oder durcheinander an dem Tag? Kam er zu spät?«
»In der Mitschrift der Stunde kann ich keine Besonderheiten feststellen. Wir bearbeiteten einen Traum des Patienten.«
»Über den Sie mir wahrscheinlich nichts erzählen werden.«
»Genauso ist es.«
»Wann hat er den nächsten Termin bei Ihnen?«
»Nächsten Dienstag, um sechzehn Uhr.«
»Dann rufe ich Sie am Dienstagabend wieder an.«
»Moment«, sagte sie, als er schon dabei war, aufzulegen. »Wollen Sie mir denn nicht sagen, worum es geht?«
»Laufende Ermittlungen. Da kann ich leider keine weiteren Auskünfte geben.«
Dr. Wittmann legte auf.
Meißner rief noch einmal bei Fischer an. »Habt ihr das Diktiergerät gefunden?«
»Noch nicht, aber wir wissen immerhin, dass sie eins besaß. Wir haben eine Kiste mit mehreren beschrifteten Kassetten gefunden. Wahrscheinlich Interviews, davon einige mit Frauen aus dem Frauenhaus.«
»Okay, ihr könnt dann für heute Schluss machen.«
Für neunzehn Uhr hatte er sich mit Pavel Kuska in der Redaktion verabredet. Marlu telefoniert gerade, als er in ihr Büro trat. Er sah ihr dabei zu, bis sie ihren Bürostuhl mit einer Vierteldrehung von ihm weg Richtung Wand bewegte. War es ihr unangenehm, wenn er sie beobachtete?
»Morgen früh treffe ich mich mit Rebecca Reim«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. »Sie ist Soziologin. Hat promoviert über … Warte, ich hab’s mir notiert: ›Versuchte und vollendete Tötungsdelikte an Frauen durch Täter aus dem sozialen Nahbereich‹. Und das umfasst fast zwei Drittel aller Tötungsdelikte an Frauen. Wusstest du, dass in Deutschland jährlich circa fünfzigtausend Frauen mit ihren Kindern in ein Frauenhaus fliehen? Das wäre halb Ingolstadt! Ich war echt geschockt. Ich habe nicht gedacht, dass es so viele sind. Die Reim hat mir auch erzählt, dass nach einer Studie des Familienministeriums jede dritte bis vierte Frau mindestens ein Mal in ihrem Leben von Gewalt durch einen Beziehungspartner betroffen ist.«
»Ist Frau Reim Feministin?«
»Wundert dich das etwa?«
»Wie gut kannte sie Roxanne Stein?«
»Sie hat in den letzten Monaten wohl eng mit ihr zusammengearbeitet. Hinter ihrem Tod vermutet sie ein ›politisches Motiv‹.«
»Der Meisinger?«
»Dazu hat sie sich nicht konkret geäußert.«
»Na, dann hast du ja einen aufregenden Tag vor dir. Aber lass dich nicht aufhetzen.«
»Wogegen?«
»Gegen uns Männer. Wir sind nämlich nicht alle Schweine. Egal, ich fahre jetzt mal zum ›Donaukurier‹.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Übrigens bin ich froh, dich im Team zu haben.«
Da war es wieder, dieses unschuldige Erröten, das er sich zum Abschied noch gewünscht hatte. Irgendwie passte es so gar nicht in die heutige Zeit.
Der Hauptkommissar fuhr auf der Konrad-Adenauer-Brücke über die Donau. Das moderne Verlagsgebäude mit der Glasfront, in der sich die frühe Abendsonne spiegelte, lag am Brückenkopf, gegenüber der Altstadt. Die Pforte war besetzt, am Freitagabend herrschte selbst um neunzehn Uhr noch lebhafter Betrieb.
Kuska holte ihn an der Pforte ab. Er war groß, schlaksig, das wenige Resthaar auf dem Schädel hatte er abrasiert.
Mit dem Fahrstuhl fuhren sie in den dritten Stock, wo von einem langen Gang die Redaktionsbüros abgingen. Da alle Zimmertüren offen standen, sah Meißner, dass die meisten Büros noch besetzt waren. Vom Gangende her arbeitete sich eine dreiköpfige Putzkolonne Richtung
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