Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
uns. Soviel ich weiß, hat sich Roxanne etwa zur gleichen Zeit von ihrem Mann getrennt und ist in die Beckerstraße gezogen. Sie kann Helena höchstens in den ersten Tagen im Haus kennengelernt haben. Von uns hat sie den ehemaligen Wohnort jedenfalls nicht erfahren. Wir haben nie Namen und Adressen der Lebenspartner unserer Klientinnen weitergegeben, und Roxanne hat mir gegenüber auch nie etwas in der Richtung geäußert.«
»Sie glauben also nicht, dass sie wusste, dass ihr Nachbar der Partner von Frau Haschova war?«
»Nein.«
»Gut, das war’s dann, denke ich. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
»Verdächtigen Sie diesen Grote?«
»Wir fangen gerade damit an.«
Als Rebecca Reim gegangen war, schickte Meißner seine Leute nach Hause. Es war immerhin Sonntagabend, und sie hatten das Wochenende praktisch durchgearbeitet. Morgen würden sie Grote vernehmen, und Naum würde eine weitere Nacht in der Zelle im Untergeschoss verbringen, obwohl keiner wirklich damit rechnete, dass die DNA -Probe positiv ausfiel.
Marlu sagte, dass sie mit einer Freundin verabredet sei. Ging sie ihm aus dem Weg? Oder erwartete sie, dass er ihr irgendein Zeichen gab?
Meißner fuhr in seine Wohnung und machte eine Flasche Weißen auf. Beziehungen zwischen Männern und Frauen konnten auf so viele Arten scheitern. Wahrscheinlich gab es ungefähr so viele Möglichkeiten, wie es Menschen gab. Glückliche Beziehungen waren alle irgendwie ähnlich. Oder vielleicht war auch nur das Bild ähnlich, das man sich von ihnen machte. Die unglücklichen Beziehungen dagegen waren alle auf ihre ganz spezifische Art unglücklich. In seinem Beruf hatte er es meist mit den krassen Beispielen des Scheiterns zu tun. Sobald Gewalt im Spiel war, war eine Ehe, eine Partnerschaft auch schon am Ende. Die Dunkelziffer der Übergriffe betrug allerdings ein Vielfaches der aktenkundigen Vorfälle. Viele der Frauen blieben auch bei ihren gewalttätigen Männern. Aus Angst, aus Unwissenheit, aus mangelnder Perspektive. Oder weil sie aus ihrer Opferrolle nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskamen. Das Beste war vielleicht, wenn sich Frauen überhaupt nie in die Falle einer wirtschaftlichen Abhängigkeit begaben. Nur dadurch konnten sie sich überhaupt einen Ausweg aus einer Partnerschaft, die ihnen schadete, offen halten. Häufig begann schon mit der Entscheidung, Kinder zu haben, die Abhängigkeit der Frauen. Umgekehrt garantierte Unabhängigkeit wahrscheinlich nicht in jedem Fall Freiheit und Sicherheit. Nicht automatisch jedenfalls.
Carola bekam ein Kind und wollte oder konnte den Vater nicht preisgeben. Vielleicht war das ihr persönlicher Schutz vor der Abhängigkeit. Sie würde das Kind bekommen und schuf mit der Frage der ungeklärten Vaterschaft Distanz zum leiblichen Vater, wenn Meißner das überhaupt war, sowie zu ihrem jetzigen Lebenspartner. Natürlich konnte es sich dabei auch um ein und dieselbe Person handeln, aber das blieb vorerst ungeklärt. Für die ersten Lebensjahre des Kindes mochte dieses Konstrukt vielleicht sogar funktionieren, auf Dauer sicher nicht. Aber der Zweifel, das Nebeneinanderher der beiden Möglichkeiten, brach von Anfang an die Idylle einer netten und glücklichen Kleinfamilie auf. Ein Stein war sozusagen in die Windschutzscheibe geflogen, und niemand traute sich, ihn herauszuziehen, weil jeder Angst davor hatte, dass die Scheibe in Tausende von kleinen Splittern zerfallen würde, wenn man ihn zu entfernen versuchte.
Meißner schenkte sich noch ein Glas ein.
Carola kannte ihn gut genug. Sie wusste, dass er von dem Gedanken an das Kind nicht mehr loskommen würde. Sie wusste aber auch, dass er nicht wütend auf sie oder ihren neuen Partner war. Dass er nicht um sie kämpfen würde. Dass er keine Besitzansprüche auf sie oder auf das Kind auspacken würde. Er war einfach nur neugierig auf diesen kleinen Jungen und darauf, wie er Carolas Leben und vielleicht auch sein eigenes verändern würde.
Er ging zu Bett, und Chandler hatte wieder seine Chance verspielt, ihn vom sofortigen Einschlafen abzuhalten. In den Minuten vor dem Wegdämmern tasteten seine Fingerspitzen noch nach der warmen Haut eines Frauenkörpers, falsch, nicht eines Frauenkörpers, sondern nach dem Körper von Marlu. Sein Bett kam ihm sehr groß und nutzlos vor.
ACHT
Am Montagmorgen kaufte er sich als Erstes die Zeitung am Kiosk. Im Regionalteil fand er Kuskas Nachruf auf Roxanne Stein: »Journalistin des ›DK‹ tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Die
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