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Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Titel: Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Autoren: Karin Fossum
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waren. Das ruhige Leben hatten sie jetzt. Das Meer war nur eine halbe Stunde entfernt, die salzige Luft jedoch drang nicht bis hierher vor, im Frühjahr roch es nach Zwiebeln und Porree oder beißend nach Dünger, im Herbst nach süßen Äpfeln. Einar kam aus der Hauptstadt, hatte aber kein Heimweh. Er betrieb die Kneipe ganz allein. Solange er sie hatte, würde es niemand wagen, im Umkreis von zwanzig Kilometern eine weitere aufzumachen. Er wollte seine Kneipe betreiben, solange er aufrecht stehen konnte. Und weil er Suff und Streitereien verhindern konnte, trauten sich alle herein. Die Hausfrauen verlangten Kaffee und Kuchen, die Kinder Würstchen und Cola, die Jugendlichen ein Bier. Er lüftete sorgfältig, machte gewissenhaft sauber, leerte die Aschenbecher und erneuerte die abgebrannten Teelichter. Seine Frau wusch die rotweißkarierten Tischdecken zu Hause in der Waschmaschine. Seiner Kneipe fehlte es zwar an Stil, dafür aber erlaubte er auch keinen richtigen Kitsch. Vasen mit Plastikblumen gab es bei ihm nicht. Erst vor kurzem hatte er sich eine größere Spülmaschine für die Gläser geleistet. Die Gesundheitsbehörde könnte seine Küche gern inspizieren, die war in Bezug auf Ausrüstung und Sauberkeit absolut zufriedenstellend.
    Hier, in Einars Kro, erfuhren die Leute, was im Ort so passierte. Wer mit wem zusammen war, wer sich gerade getrennt hatte, welcher Bauer jeden Moment Haus und Hof verlieren konnte. Ein einziges Taxi stand den Dörfern zur Verfügung. Kalle Moe fuhr einen weißen Mercedes und war fast immer telefonisch zu erreichen, war immer nüchtern und immer zu Diensten. Und wenn nicht, dann besorgte er aus der Stadt Ersatz. Solange Kalle im Dorf Taxi fuhr, war kein Platz für ein zweites. Er war über sechzig. Mögliche Nachfolger standen schon in den Startlöchern.
    Einar Sunde stand sechs Tage die Woche in seiner Kneipe, an allen Werktagen bis zehn Uhr abends. Samstags hatte er bis Mitternacht geöffnet, sonntags geschlossen. Er war ein langer dünner Mann, mit langen dünnen Armen und rötlichen Haaren. Immer steckte ein Geschirrtuch in seinem Hosenbund, das beim ersten Fleck gewechselt wurde. Seine Frau Lillian, die ihn außer in der Nacht fast nie sah, lebte ihr eigenes Leben, und die beiden hatten keine Gemeinsamkeiten mehr. Sie brachten es nicht einmal mehr über sich, miteinander zu streiten. Einar hatte keine Zeit, um von einem besseren Leben zu träumen, er mußte arbeiten. Das Chalet hatte, inklusive Sauna und Fitnessraum, den er nie benutzen konnte, glatte eins Komma sechs Millionen verschlungen. In der Kneipe versammelte sich der harte Kern des Dorfes. Er bestand aus jungen Männern zwischen achtzehn und dreißig, mit oder ohne Freundinnen. Weil sie Einars Kro hatten, wo Bier ausgeschenkt wurde, kamen sie nie in die Stadt und lernten deshalb auch keine Mädchen von außerhalb kennen. Alle konnten zu Fuß in die Kneipe gehen, so klein war das Dorf. Lieber tranken sie ein paar Bier mehr, als aus der Stadt ein teures Taxi zu nehmen. Und deshalb heirateten sie Frauen aus dem Ort und blieben dort wohnen. Doch ehe es so weit kam, wurden die Kandidatinnen durchprobiert. Das sorgte für eine seltsame Gemeinschaft mit vielen ungeschriebenen Gesetzen.
    Nach allerlei Debatten im Gemeinderat hatte Elvestad ein Einkaufszentrum erhalten, und jetzt staubte der Dorfladen neben der Tankstelle vor sich hin. Im Einkaufszentrum hatte eine unternehmungslustige Seele zwei Sonnenbänke installiert, eine zweite einen Blumenladen eröffnet, die dritte eine kleine Parfümerie. Im ersten Stock lagen Arzt- und Zahnarztpraxis und Annes Frisiersalon. Die jungen Leute aus dem Dorf gingen nicht dorthin. Sie ließen sich die Haare in der Stadt schneiden. Perlen und Ringe für Nabel und Nase besorgten sie sich ebenfalls dort. Anne kannte ihre Mütter und Väter und war imstande, besondere Wünsche zurückzuweisen. Die Alten immerhin kauften weiterhin treu im Dorfladen von Ole Gunwald ein. Sie wanderten mit karierten Einkaufswagen und alten grauen Rucksäcken dorthin und kauften Lungenhaschee und Blutpudding und Stinkkäse. Ole Gunwald war das nur recht. Er hatte schon längst alle Schulden abbezahlt.
    Gunder ging nie in die Kneipe, aber Einar wußte, wer er war. Ein seltenes Mal schaute Gunder herein und kaufte sich ein Erdbeereis, das er, bei gutem Wetter, am Plastiktisch vor dem Eingang verzehrte. Einar kannte Gunders Haus, wußte, daß es an die vier Kilometer vom Ortskern entfernt an der Straße nach Randskog
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