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Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Titel: Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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ihn weglegen, würde wieder dazu greifen. Ihn vielleicht aufbewahren. Ihn den Arbeitskollegen zeigen. Linda war ehrlich begeistert von ihrer guten Idee. Ab und zu war das Leben so einfach, rollte sich vor ihr aus wie ein roter Teppich. Sie ging ins Badezimmer. Starrte in den Spiegel. Schob sich die Haare aus der Stirn und wickelte ein Gummiband darum. Jetzt sah sie älter aus. Dann lief sie in ihr Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Nahm eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover heraus. Ihr helles Gesicht sah über soviel Schwarz ganz bleich aus, es war ein dramatischer Effekt. Dann nahm sie alle Schmuckstücke ab. Ohrgehänge, Halskette und Ringe. Nur ihr bleiches Gesicht mit den straffen Haaren war noch übrig. Sie schloß hinter sich ab und ging zur Bushaltestelle hinunter. Den Brief schob sie in ihren BH, das Papier war zuerst kühl an ihrer Haut, dann wurde es warm. Bald würden Jacobs Hände über den weißen Briefumschlag streichen, der auf ihrem Herzen gelegen hatte. Es pochte jetzt heftig. Sie spürte, daß ihre Brustwarzen sich aufrichteten. Vielleicht würde der Briefumschlag ein wenig nach ihr riechen. Sie spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken sträubten, die, die sich dem Gummi entzogen hatten. Der Bus kam. Sie stieg ein und träumte sich warm. Niemand sprach mit ihr. Wenn jemand etwas gesagt hätte, hätte sie sich umgedreht und mit gläsernen Augen durch sie hindurchgestarrt.
     

»HALLO, MARIE«, 
    sagte Gunder. »Es gibt noch etwas, daß ich dir nicht erzählt habe. Das liegt sicher daran, daß ich glaube, daß du hören kannst, auch, wenn ich es besser weiß. Der Unfall, Marie. Der Zusammenstoß. Der Grund, aus dem du hier liegst. Es ist so, daß der andere tot ist. Ich war auf seiner Beerdigung. Ich habe mich im Hintergrund gehalten, auf der hintersten Bank. Viele haben geweint. Die Trauerfeier endete in der Kirche, manche wollen das ja so. Dann bin ich ganz still zu meinem Auto gegangen. Ich fand es richtig, hinzugehen, aber ich wollte nicht übermäßig lange bleiben, ich war doch nicht eingeladen. Doch dann kam eine Frau hinter mir her, sie rief laut nach mir, ich muß zugeben, daß ich zusammengezuckt bin. Es war die Witwe, Marie. Sie ist in deinem Alter. Sie müssen schon entschuldigen, hat sie gesagt, ich kenne alle, die in der Kirche waren, aber Sie habe ich noch nie gesehen. Und ich sagte wahrheitsgemäß, daß ich dein Bruder bin. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Einen Wutanfall, oder Verlegenheit, vielleicht, aber alles kam ganz anders. Ihr traten die Tränen in die Augen. Wie geht es Ihrer Schwester, fragte sie besorgt.
    Ich war zutiefst gerührt. ›Ich weiß es nicht‹, sagte ich. Ich weiß nicht, ob sie je wieder zu sich kommt. Und sie streichelte einige Male meinen Arm und lächelte. Die Menschen sind viel besser als ihr Ruf, Marie.
    Aber jetzt kommt das Wichtigste. Poona ist gestern begraben worden. Es war sehr schön, das hättest du miterleben sollen. Nicht viele Leute, natürlich, und einige waren sicher nur aus Neugier gekommen, aber das spielt doch keine Rolle. Zwei Polizisten waren auch dabei. Aber du hättest die Kirche sehen sollen! Pastor Berg wurde ganz blaß, als er seinen feierlichen Einzug hielt und den farbenfrohen Sarg sah. Ich war in Oslo bei einem Blumenhändler, der Mann war ein wahrer Blumenkünstler. Für mich war das Beste gerade gut genug. Ich wollte nicht das Übliche, was man sonst zu Beerdigungen bestellt. Sträuße und so. Sondern lange Kränze aus gelben und orangenfarbenen Blumen. Etwas richtig Indisches, wenn du verstehst, was ich meine. Als er das hörte, zitterte er vor Begeisterung. Und das Ergebnis hättest du mal sehen sollen! Die Temperatur in der Kirche ist um etliche Grad gestiegen. Auf dem dunklen Mahagonisarg schien ein Feuer zu lodern. Wir haben indische Musik laufen lassen. Ich glaube, ihrem Bruder hätte es gefallen.
    Wir waren sechs Sargträger, und ich war zuerst ein wenig nervös. Ich dachte, wir seien vielleicht nicht genug? Aber Karsten war dabei, ob du’s glaubst oder nicht, und Kalle und ich und Kollege Bjørnsson. Und zwei Polizisten. Das letzte, was wir für Poona getan haben, war zu singen. Hast du gewußt, daß Kalle eine schöne Stimme hat?
    Ich habe niemanden zu mir nach Hause eingeladen. Ich dachte, Karsten würde sich selber einladen, aber er war weg, so schnell es überhaupt ging. Ja, ja. Er hat es nicht leicht. Hat vor allem Angst. Ich habe vor gar nichts mehr Angst. Weder vor Gott noch vor dem

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