Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
sagte Sara. »Das war das Unanständigste, was du in deinem Leben je getan hast.«
Sejer war innerlich glühendheiß.
»Darf ich auf mehr hoffen?« fragte Sara mit lockendem Lächeln.
»Warum sollte ich unanständig sein?« fragte er unsicher.
»Das ist so schön, weißt du?«
Sie schmiegte sich an ihn. »Du weißt gar nicht, wie man das macht«, sagte sie. »Du hast keine Ahnung, was unanständig ist. Und das ist nur gut so.« Rasch streichelte sie seine Wange. »Das ist wirklich nur gut so.«
LINDA LAG ZITTERND IM BETT,
als Jacob seine platten Reifen betrachtete. Sie konnte das deutlich vor sich sehen. In Gedanken stand sie neben ihm und tröstete ihn. Später ging sie einen Schritt weiter und besorgte sich ein Jagdmesser mit langer Klinge. Der Griff war aus Erlenholz. Das Messer paßte in ihre Nachttischschublade und wurde so wichtig für sie, daß sie es sich immer wieder ansehen mußte. Wieder und wieder bewunderte sie den blanken Stahl. Sie versuchte, sich die Klinge mit Jacobs Blut bedeckt vorzustellen. Es war ein so starkes Bild, daß ihr innerlich ganz heiß wurde. Wenn er zu ihren Füßen in sich zusammensank und sie ihn in den Armen hielt, würde sie die Augen schließen und den Rest der Welt und den Rest des Lebens aussperren. Nur für diese Sekunde leben, in der er seinen letzten Atemzug tat. Er würde ihr in die Augen schauen und in der letzten Sekunde vielleicht alles begreifen. Er hatte einen entsetzlichen Fehler gemacht. Er hätte ihre Liebe annehmen sollen. Linda hielt das Messer in den Händen, es war ihr bereits vertraut. Sie hatte sich noch keinen Zeitpunkt ausgesucht, aber sie würde im Hauseingang auf ihn warten.
Und wenn er dann endlich tot wäre, würde sie die Polizei anrufen und mitteilen, wo er lag, anonym natürlich. Dann würde er ihr für immer gehören, und der Fall würde niemals aufgeklärt werden. Bis sie selber alt wäre, ohne jemals einen anderen geheiratet zu haben. Dann würde sie ihre Geschichte aufschreiben und an die Zeitungen schicken. Auf diese Weise würde sie unsterblich werden. Die anderen würden erkennen, daß sie sie immer unterschätzt hatten. Ihre Macht berauschte sie, und sie wunderte sich, warum sie nicht längst erkannt hatte, wie stark sie war. Stark genug, um allein gegen alle zu stehen. Sie hatte vor nichts mehr Angst. Wenn Gøran aus dem Gefängnis entlassen würde und sie umbringen wollte, würde sie in der Dunkelheit lächeln. Der mutmaßliche Täter im Elvestad-Fall leugnet alle Schuld, las sie, als sie mit einer Tasse Tee am Frühstückstisch saß. Sie schnitt den Artikel aus und steckte ihn in ihre Plastikmappe. Dann fiel ihr Blick auf eine andere Meldung. »Mann, 29, erstochen auf Osloer Straße gefunden. Erlag später seinen Verletzungen.« Die Geschichte, die auf Seite 4 der Zeitung folgte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie las weiter. »Gestern abend wurde auf der Straße ein blutender junger Mann in der Nachbarschaft des Restaurants Røde Mølle gefunden. Ihm waren mit einer messerähnlichen Waffe mehrere Stichwunden zugefügt worden. Er starb bald darauf im Krankenhaus, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Der Mann konnte inzwischen identifiziert werden, aber die Polizei hat keinerlei Spuren.« Ihr Blick wanderte durch das Fenster zum trüben Himmel. Genau so eine Meldung würde nach Jacobs Tod in der Zeitung stehen. Es war wie eine Vorwarnung. Sie zitterte. Schnitt die Meldung aus. Steckte sie zu den übrigen Artikeln in die Plastikmappe. Daß so etwas in der Zeitung stand, gerade das! In ihrem Gehirn nahm eine Idee Form an. Sie zog den Ausschnitt wieder aus der Mappe und holte sich einen Briefumschlag. Steckte den Artikel hinein und leckte den Kleberand an. Schrieb Jacobs Adresse darauf. Sie wollte ihm den Ausschnitt schicken. Als eine Art Liebeserklärung. Dann ging ihr auf, daß der Brief zurückverfolgt werden konnte. Er trug ihre unverkennbare Schrift, eine kindliche Mädchenschrift mit runden Buchstaben. Sie riß den Umschlag auf und holte einen anderen. Schrieb dieselbe Adresse mit steilen, fremden Buchstaben, die ihr überhaupt nicht zu gehören schienen. Sie konnte den Brief in der Stadt aufgeben. Wenn er in Elvestad abgestempelt wäre, würden sie ihn auch zurückverfolgen können. Nein, sie würde ihn überhaupt nicht aufgeben, sondern ihn in seinen Kasten werfen. In den Sammelkasten im Hauseingang. Und dann würde Jacob vielleicht staunen! Er würde den Ausschnitt und den Briefumschlag drehen und wenden, würde
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