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Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Titel: Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Autoren: Karin Fossum
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Die Erschöpfung brach ohne Vorwarnung über ihn herein. Eine Kraftlosigkeit, die ihm den Atem verschlug. Später spürte er diese Anfälle kommen, sie schlichen sich an ihn heran. Dann legte er sich über den Tisch, um sich auszuruhen. Sejer ließ ihn gewähren. Manchmal erzählte er Geschichten. Gøran hörte zu. Vergangenheit und Zukunft existierten nicht mehr, es gab nur noch diesen einen Tag, den 20. August. Und die Wiese auf Hvitemoen, wieder und wieder. Neue Einfälle, neue Herangehensweisen, neue unerwartete Sprünge. Der Tag war für immer ruiniert. In tausend Stücke zersprungen. Ich war bei Lillian. Er hatte es schon so oft gesagt, aber jetzt konnte er es nicht mehr glauben. Lillian sagt nein. Warum sagte sie nein? Der 20. August. Er war allein im Auto und fuhr die Straße entlang. Erschreckende Bilder tauchten in seinem Kopf auf. Bilder, deren Ursprung er nicht kannte. Waren es seine eigenen, waren sie Wirklichkeit oder Einbildung? Hatte dieser starre graue Mann sie ihm eingegeben? Er stöhnte leise. Sein Kopf kam ihm schwer und feucht vor.
    »Ich kann dir helfen, die Wahrheit zu finden«, sagte Sejer. »Aber das mußt du selber wollen.«
    »Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Gøran.
    Er spürte, wie in seinem Mund etwas anschwoll, zusammen mit einer instinktiven Angst, als verrate er sich selber, wenn er den Mund öffnete und die Worte ausspuckte, ein für allemal.
    »Mein Hund ist wieder auf den Beinen«, sagte Sejer. »Er schwankt durch die Wohnung und kann ein wenig fressen. Das war eine Erleichterung. Ich habe neue Kräfte gewonnen.«
    Worauf Gøran wieder stöhnte.
    »Ich muß trainieren«, sagte er. »Ich werde verrückt, wenn ich nicht trainieren kann.«
    »Später, Gøran, später. Dann kannst du alles haben. Training. Frische Luft. Besuch. Zeitungen und Fernsehen. Vielleicht einen Computer. Aber zuerst müssen wir unsere Arbeit machen.«
    »Ich komme nicht weiter«, schluchzte Gøran. »Ich weiß nichts mehr.«
    »Das ist alles eine Willensfrage. Du mußt eine Schwelle überschreiten. So lange du die Hoffnung hast, daß alles ein böser Traum war, schaffst du das nicht.«
    Gøran preßte das Gesicht auf seine Hemdenärmel und schniefte. »Aber wenn ich es nun nicht gewesen bin?« wimmerte er.
    »Wenn du es nicht warst, dann werden wir das sehen, Gøran. Durch unsere Funde. Und durch das, was du erzählst.«
    »Alles ist ein Chaos.«
    »Warst du mit jemandem zusammen?«
    »Nein.«
    »Hast du Einar um Hilfe gebeten, als du den Koffer loswerden wolltest?«
    »Sie hatte keinen Koffer!«
    Die Worte schrillten durch das Zimmer. Waren ihm unfreiwillig über die Lippen gerutscht. Sejer lief es eiskalt den Rücken hinunter. Jetzt wußte er es wieder, war in Gedanken dabei. Sah sie auf der Straße vor sich.
    Sie hatte keinen Koffer !
    »Aber die Tasche?« fragte er ruhig. »Kannst du dich an die erinnern?«
    »Die war gelb«, stöhnte Gøran. »Die war eine blöde Banane.«
    »Ja«, sagte Sejer. Er sagte es ganz leise, fast ohne Stimme. »Jetzt geht sie auf der Straße. Du siehst die gelbe Banane. Wollte sie per Anhalter fahren?«
    »Nein. Sie ging die Straße entlang. Dann hörte sie das Auto und blieb stehen. Ich wußte nicht, warum, und habe automatisch gebremst. Dachte, sie wollte vielleicht nach dem Weg fragen. Aber sie fragte nach Jomann. Ob ich den kenne. Ich sagte nein, aber ich weiß, wer er ist. Ich kann dich fahren. Sie stieg ein. Saß stocksteif neben mir. He’s not at home. Wir können nachsehen«, sagte ich. Und fragte, was sie dort wollte.
    Gøran sprach zur Tischplatte. Sejer hörte atemlos zu.
    »Is my husband, sagte sie und lächelte. Und umklammerte dabei ihre blödsinnige Tasche. Nein, zum Henker, lachte ich, doch nicht dieses alte Schwein? Sie wurde sehr ernst. Not polite to say so. You are not polite, sagte sie ernst. Nein, sagte ich, ich bin nicht höflich, verdammt noch mal. Vor allem nicht heute. Und ihr Weibsbilder seid das auch nicht.«
    Gøran legte eine Pause ein. Sejer verspürte ein leises Zittern, das sich legte und durch Unruhe ersetzt wurde. Er erlebte jetzt die wirkliche Geschichte. Darüber war er froh, und es war entsetzlich. Eine Grausamkeit, die er nicht sehen wollte, aber an der er teilhaben mußte. Und das vielleicht für immer.
    »Ich kann mich an ihren Zopf erinnern, sagte Gøran leise. Den hätte ich gern abgerissen.«
    »Warum?« fragte Sejer leise.
    »Er war so lang und dick und verlockend. – You angry, fragte sie vorsichtig, und ich sagte, ja, very angry.
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