Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Friis behauptete hartnäckig, Gørans Aussage sei unvollständig. Er habe das Verbrechen durchaus nicht beschrieben. Er erinnere sich nicht an die Kleidung der Frau, nur, daß diese dunkel gewesen sei. Auch die Goldsandalen hatte er nicht erwähnt, oder den norwegischen Schmuck an ihrem Kittel. Er konnte überhaupt nichts über das Aussehen der Toten sagen, während alle anderen, die etwas mit dem Opfer zu tun gehabt hatten, ihre stark vorstehenden Zähne erwähnten. »Das hier ist eine reine Konstruktion«, donnerte Friis, »er hat sie sich in einem Moment der Verzweiflung und der Erschöpfung aus den Fingern gesaugt.« Auf die Frage, wo genau er seine Kleider ins Norevann geworfen habe, blieb Gøran vage. Seine bisherige Aussage wies viele Lücken und Unklarheiten auf. Die spätere Rekonstruktion würde das alles zeigen. Friis begegnete Sejer in der Kantine, und obwohl der Hauptkommissar verbissen auf sein Krabbenbrot starrte, ließ Friis sich neben ihn sinken. Er redete viel. Sejer war wortkarg.
»Er war es, und das weißt du«, sagte er kurz und spießte mit der Gabel eine Krabbe auf.
»Vermutlich«, sagte Friis ganz offen, »aber auf dieser Grundlage kann er nicht verurteilt werden.«
Sejer wischte sich Mayonnaise vom Mund und sah den Verteidiger an.
»Früher oder später ist er wieder auf freiem Fuß. Wenn er jetzt ungestraft davonkommt, dann habe wir weiterhin eine tickende Zeitbombe vor uns.«
Friis lächelte und machte sich über sein Brot her.
»Du machst dir vermutlich nie Sorgen über noch nicht begangene Morde. Du hast genug mit denen zu tun, die gerade auf deinem Schreibtisch liegen. Und mir geht das auch so.«
Sie kauten eine Weile schweigend.
»Das Schlimmste ist«, sagte Sejer, »daß Gøran zum ersten Mal seit langer Zeit mit sich im reinen war. Jetzt, wo er sein Geständnis zurückgezogen hat, muß er das alles noch einmal durchmachen. Weiter ist er nicht gekommen. Und das hätte ihm erspart werden müssen.«
Friis schlürfte seinen Kaffee.
»Er hätte niemals festgenommen werden dürfen«, sagte er. »Du bist ein alter Hase in diesem Metier. Ich staune darüber, daß du dieses Risiko eingegangen bist.«
»Du weißt, daß mir nichts anderes übrig blieb«, sagte Sejer.
»Und ich weiß, wie du arbeitest«, sagte Friis. »Du stehst auf seiner Seite. Redest ihm nach dem Mund. Hörst zu und verstehst, klopfst ihm auf die Schulter. Machst ihm Komplimente. Bist der einzige, der ihn aus diesem Zimmer herausholen, der ihm Rechte zubilligen kann. Die du ihm selber weggenommen hast.«
»Ich könnte schreien und schlagen«, sagte Sejer einfach. »Wäre dir das lieber?«
Friis gab keine Antwort. Er kaute lange und sorgfältig.
»Du hast ihm eine Inderin ins Bewußtsein gepflanzt«, sagte er scharf. »Wie damals der Forscher den Eisbären. So als Experiment.«
»Ach ja«, sagte Sejer gleichgültig.
»Mach das Spiel doch mal mit. Wenn du weiß, worum es geht.«
»Ich glaube, schon.«
»Laß deinen Gedanken einfach einige Sekunden lang freien Lauf. Mach dir irgendein Bild. Erlaubt ist alles, mit einer Ausnahme: Das Bild darf keinen Eisbären enthalten. Ansonsten ist alles gestattet. Aber um nichts in der Welt darfst du an einen weißen Bären denken. Hast du mich verstanden?«
»Besser, als du glaubst«, sagte Sejer trocken.
»Dann los.«
Sejer versank in Gedanken, aß aber weiter. Ziemlich rasch tauchte vor seinem inneren Auge ein Bild auf. Er hörte auf zu essen und schaute es an.
»Na?« fragte Friis.
»Ich sehe einen Südseestrand«, sagte Sejer. »Mit azurblauem Wasser und einer einsamen Palme. Und weißen, schäumenden Wellen.«
Er verstummte.
»Und wer stapft jetzt den Strand entlang?« fragte Friis neckend.
»Der Eisbär«, gestand Sejer.
»Genau. Du hast dich von Spitzbergen so weit entfernt, wie du nur konntest, um ihm zu entgehen. Aber der verdammte Bär hat dich bis in die Südsee verfolgt. Weil ich ihn dir eingepflanzt habe. So, wie du Poona Bai in Gørans Gehirn gepflanzt hast.«
»Wenn du unseren Methoden mißtraust, dann mußt du bei den Verhören deiner Mandanten anwesend sein.«
»Hab zu viele«, sagte Friis.
»Bald kommt das Video«, sagte Sejer. »Und dann mußt du mit anderen Karten spielen.«
Er ging zu seinem Büro zurück, wo er Skarre vorfand. Wortlos reichte der ihm eine kleine Zeitungsnotiz. Sejer las.
»›Junger Mann in Oslo erstochen aufgefunden. Später seinen Verletzungen erlegen‹. In deinem Briefkasten? Luftfrankiert?«
»Ja.«
Sejer
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