Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
musterte ihn forschend. »Macht dir das Sorgen?«
Skarre fuhr sich nervös durch die Locken.
»Meine Autoreifen waren aufgeschlitzt. Auch hier ist von einem Messer die Rede. Irgendwer hat den Brief bei mir eingeworfen. Verfolgt mich. Will etwas von mir. Ich begreife das nicht.«
»Was ist mit Linda Carling? Hast du dir das schon überlegt?«
»Ja. Aber das hier ist nicht gerade weiblich. Und Reifenaufschlitzen auch nicht.«
»Vielleicht ist sie nicht sonderlich weiblich?«
»Ich begreife nicht, was sie ist. Ich habe vor kurzem ihre Mutter angerufen. Die macht sich große Sorgen. Sagt, Linda habe sich total verändert. Geht nicht mehr in die Schule. Zieht sich anders an und ist sehr still. Und wirft schmerzstillende Tabletten ein. Eine Packung nach der anderen. Und dann hat sie noch etwas sehr Seltsames gesagt. Daß Lindas Stimme sich verändert hat.«
»Was?«
Sejer runzelte die Stirn.
»Du erinnerst dich doch an Linda? An ihre schrille Stimme, an dieses typische Zwitschern, das viele Teenies haben?«
»Ja?«
»Das ist weg. Ihre Stimme ist tiefer geworfen.«
Sejer betrachtete noch einmal den Zeitungsausschnitt.
»Kannst du mir den Gefallen tun und ein bißchen vorsichtig sein?«
Skarre seufzte. »Sie ist sechzehn. Aber von mir aus. Ich werde mich immer wieder umschauen. Aber ich denke an diese Tabletten.«
»Sie nimmt sie als Rauschmittel«, sagte Sejer.
»Oder sie hat Schmerzen«, sagte Skarre. »Nach einem Überfall zum Beispiel.«
LINDA NÄHTE AN EINER WEISSEN BLUSE.
Sie saß ganz still unter der Lampe da und nähte mit einem Fleiß und einer Genauigkeit, die ihre Mutter bei ihr noch nie gesehen hatte. Und diese Bluse kannte sie auch noch nicht.
»Ist die neu? Woher hast du das Geld?«
»Hab sie bei der Heilsarmee gekauft. Fünfundvierzig Kronen.«
»Du trägst doch sonst keine weißen Blusen.«
Linda legte den Kopf schräg. »Die ist für einen besonderen Anlaß.«
Diese Antwort gefiel der Mutter. Sie glaubte, es habe mit einem Jungen zu tun, was im Grunde ja auch stimmte.
»Warum hast du die Knöpfe ausgetauscht?«
»Goldknöpfe sind so albern«, sagte Linda. »Die braunen sind schöner.«
»Hast du heute Nachrichten gehört?« fragte die Mutter.
»Nein.«
»Gegen Gøran wird Anklage erhoben. Obwohl er sein Geständnis widerrufen hat.«
»Ach was«, sagte Linda.
»Der Prozeß soll in drei Monaten beginnen. Ich kann nicht fassen, daß er es gewesen sein soll.«
»Ich wohl«, sagte Linda. »Zuerst war ich unsicher, aber das ist vorbei.«
Sie nähte weiter. Die Mutter sah, daß ihre Tochter schön war. Älter. Stiller. Trotzdem machte sie sich Sorgen.
»Triffst du dich nie mehr mit Karen?«
»Nein.«
»Schade. Die ist doch ein nettes Mädchen.«
»Ja«, sagte Linda. »Aber sie hat einfach keine Ahnung.«
Die Mutter stutzte. »Keine Ahnung wovon?«
Endlich ließ Linda die Bluse sinken. »Sie ist nur ein Kind.«
Dann nähte sie weiter. Wickelte den Stiel unter dem Knopf fest und vernähte den Faden.
»Das mit Gøran ist schon seltsam«, sagte die Mutter nachdenklich. »Können sie ihn verurteilen, wenn sie nur Indizien haben? Es gibt nicht einen einzigen überzeugenden Beweis, sagt der Verteidiger.«
Sie zitierte aus der Zeitung.
»Ein Indiz ist nicht viel«, gab Linda zu. »Aber wenn es viele gibt, dann ändern sie ihren Charakter und werden zu etwas anderem.«
»Wozu denn?«
Die Mutter schaute ihre Tochter verwundert an.
»Zur an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit.«
»Woher kennst du solche Begriffe?«
»Aus den Zeitungen«, sagte Linda. »Er fährt so ein Auto, wie ich es gesehen habe. Er war so gekleidet, wie der Mann, den ich gesehen habe. Er kann die Sachen nicht mehr finden, die er anhatte, und die Schuhe auch nicht. Er kann nicht sagen, wo er an dem Abend war, er hat mehrere Lügen aufgetischt, um sich ein Alibi zu verschaffen. Am Tag nach dem Mord hatte er ein zerkratztes Gesicht. Er hatte im Wagen Gegenstände liegen, die er als Mordwaffe benutzt haben kann. Bei dem Opfer wurden Reste von Magnesiumpulver gefunden, das vermutlich aus dem Adonis stammt, und er kam von einem Treffen mit seiner Freundin, bei dem sie Schluß gemacht hatte. Und schließlich: Er hat den Mord gestanden! Was willst du eigentlich noch?«
Die Mutter schüttelte verwirrt den Kopf.
»Nein, mein Gott. Ich weiß es nicht.«
Wieder musterte sie die weiße Bluse. »Wann wirst du die anziehen?«
»Zu einer Verabredung.«
»Jetzt, heute abend?«
»Früher oder später.«
»Das
Weitere Kostenlose Bücher