Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
neugierig. »Hat die von sich hören lassen?«
In Sejers Wohnzimmer war für einen Moment alles still.
»Elise schimpft nie mit mir«, sagte er leise.
Es war schon später Abend, als Sejer aufstand und seine Jacke holte. Der Hund wackelte zum Abschied auf seinen schwachen Beinen, die immer kräftiger wurden, hinter ihm her. Während Sejer und Skarre sich noch unterhielten, klingelte die Türglocke wütend los. Sejer schaute erstaunt auf die Uhr, es war fast Mitternacht. Draußen stand eine Frau. Er erkannte sie erst nach einer Weile.
»Tut mir leid, daß ich so spät komme«, sagte sie mit ernster Miene. »Und ich gehe auch gleich wieder. Ich wollte nur etwas Wichtiges sagen.«
Sejer umklammerte die Türklinke. Er schaute Gørans Mutter ins Gesicht.
»Haben Sie Kinder?« fragte sie und starrte ihn an. Ihre Stimme zitterte. Er sah wie ihre Brust sich unter ihrem Mantel hob und senkte. Ihr Gesicht war weiß.
»Ja«, sagte Sejer.
»Ich weiß nicht, wie gut Sie Ihre Kinder kennen«, sagte sie. »Aber ich kenne Gøran gut. Ich kenne ihn so gut wie meinen eigenen Leib. Und das hier hat er nicht getan.«
Sejer blickte auf ihre Füße, die in braunen Stiefeln steckten.
»Ich würde es wissen«, sagte sie leise. »Der Hund hat ihn gekratzt. Niemand will das glauben. Aber ich habe es doch gesehen, am Abend des 20. Ich stand am Fenster und war mit dem Abwasch beschäftigt, als er durch das Tor kam. Er hatte seine Trainingstasche bei sich, und als er den Hund sah, ließ er sie fallen und spielte mit dem Tier. Er liebt seinen Hund, und sie haben wild herumgetobt. Als er ins Haus kam, war sein Gesicht blutig zerschrammt. Und danach hat er unter der Dusche gesungen.«
Dann verstummte sie. Sejer wartete.
»Das ist bei Gott die Wahrheit«, sagte sie. »Das wollte ich nur loswerden.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging die Treppe hinunter.
Sejer brauchte eine Weile, um sich zu fassen. Dann schloß er die Tür. Skarre sah ihn an.
»Er hat unter der Dusche gesungen?«
Diese Worte blieben in der Luft hängen. Sejer ging wieder ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Er konnte sehen, wie Helga Seter vor den Wohnblocks über den Parkplatz ging.
»Kann man unter der Dusche singen, wenn man so etwas getan hat?« fragte Skarre.
»Natürlich. Aber vielleicht nicht vor Freude.«
Sie schwiegen lange. Skarre schien tief in Gedanken versunken zu sein.
»Woran denkst du?« fragte Sejer langsam.
»An so vieles. An Linda Carling. Und daran, wer sie ist. Was sie wirklich gesehen hat. An Gøran Seter. Der diesen unzuverlässigen Menschen ausgeliefert ist.«
»Du willst, daß am Ende alles stimmt«, sagte Sejer langsam.
»Und ein ganzes Bild ergibt. Weil wir Menschen nun einmal so sind. Aber die Wirklichkeit ist anders. Daß einige Stücke nicht ins Bild passen, bedeutet nicht, daß Gøran unschuldig ist.«
Er kehrte ihm wieder den Rücken zu.
»Aber es ist verdammt nervig, oder?« Skarre ließ nicht locker.
»Sicher«, gab Sejer zu. »Es ist verdammt nervig.«
»Ich sag dir eins«, gab Skarre dann zu. »Wenn ich in der Jury säße, wenn es zur Verhandlung kommt, würde ich ihn auf dieser Grundlage niemals für schuldig zu sprechen wagen.«
»Du wirst aber nicht in der Jury sitzen«, sagte Sejer. Er hauchte das Fenster an. »Und natürlich ist Gøran das bravste Kind seiner Mutter. Er ist das einzige.«
»Was glaubst du denn?« fragte Skarre, noch immer skeptisch.
Sejer holte tief Luft und drehte sich um. »Ich glaube, daß Gøran nach dem Mord umhergefahren ist, in tiefster Verzweiflung. Er hatte schon einmal seine Kleidung weggeworfen, und das, was er jetzt angezogen hatte, war auch blutig. Er mußte nach Hause. Vielleicht hat er seine Mutter am Fenster gesehen. Seine blutverschmierte Kleidung brauchte eine Erklärung. Also hat er sich auf seinen Hund gestürzt. Auf diese Weise konnte er Schrammen und Blut rechtfertigen.«
Plötzlich schmunzelte er.
»Was ist so komisch?« fragte Skarre.
»Mir ist etwas eingefallen. Weißt du, daß eine Klapperschlange auch dann noch beißen kann, wenn ihr schon längst der Kopf abgehackt worden ist?«
Skarre betrachtete verwundert den breiten Rücken vor dem Fenster.
»Soll ich ein Taxi holen?« fragte Sejer, ohne sich umzudrehen.
»Nein, ich gehe zu Fuß.«
»Das ist aber weit«, meinte Sejer. »Und in deinem Torweg ist es verdammt dunkel.«
»Es ist schönes Wetter. Ich brauche Luft.«
»Du hast also keine Angst?«
Auf diese Frage folgte ein kleines Lächeln, hinter
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