Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Körper mit ihren zarten Armen. Gunder streichelte mit riesigen Pranken zögernd ihren Rücken. Poona war glücklich. Ein großer, gutaussehender Mann mit blauen Augen hatte sie aus der heißen Restaurantküche geholt. Er wollte sie aus dieser glühendheißen Stadt fortholen, aus Menschenmasse und Gedränge, aus dem kleinen Zimmer mit der Toilette auf dem Gang. Gunder besaß ein eigenes Badezimmer mit Badewanne und Schwänen an der Wand. Es war unvorstellbar. Seitdem sie den ersten Blick gewechselt hatten, mit einer Mischung aus Neugier und Sehnsucht, hatten sie gewußt, daß sie denselben Weg gehen würden. Als er sich zum ersten Mal vorbeugte und ihren schmalen Leib vorsichtig in die Arme nahm, und als er sah, daß die schwarzen Augen zuerst funkelten und sich dann verschleierten, um sich endlich zu schließen, und als sie dann an seine breite Brust sank, wußten sie es beide. In dieser ersten Nacht wurde kein Wort gesprochen, nur die Herzen klopften. Seins hart und schwer, ihres leicht und schnell. Sie hatten keine Angst, noch nicht. Poona würde ihre restliche Arbeitszeit hinter sich bringen und ihr kleines Zimmer ausräumen. Gunder würde nach Hause fahren und Haus und Garten herrichten. Im Hotel ließen sie sich fotografieren. Sie standen aufrecht nebeneinander, feierlich, weil sie soeben einen Pakt geschlossen hatten. Sie in ihrem türkisfarbenen Sari, er in seinem schneeweißen Hemd. Er ließ von dem Foto zwei Abzüge machen und gab ihr den einen. Weil sie arbeiten mußte, konnte sie ihn nicht zum Flughafen bringen. Sie trennten sich vor dem Hotel, und für einen Moment vergaß er seine Hemmungen und drückte sie fest und leidenschaftlich an sich. Und sofort brach in seinem Herzen eine Wunde auf. Weil er sie endlich gefunden hatte und sie nun verlassen mußte. Die Vorstellung von allem, was ihr passieren konnte, machte ihm Sorgen. Sie hob einen Finger und strich ihm über die Nase. Dann war sie verschwunden. Ihre dünnen braunen Beine liefen um die Ecke. Später saß er im engen Flugzeug und hielt ihr Bild in der Hand. Er merkte, daß sein Herz in seiner Brust wuchs, daß es mehr Blut pumpte als sonst. Ihm war viel zu heiß. Poona hatte ihn überall berührt. Sogar in den Ohren, in die bisher nur Wattestäbchen hineindurften. Er spürte Finger und Zehen, spürte seine Lippen, die zitterten, wenn er nur an sie dachte. Alles in ihm schien zu pulsieren, und er hatte das Gefühl, daß alle das sehen konnten. Gunder war ein Mann, der geliebt wurde. Einer, der liebte. Er stand fast in Flammen. Er schaute die anderen Fluggäste an, sah aber nur Poona. Was hatte er bisher eigentlich mit seinem Leben gemacht? Fünfzig Jahre lang war er allein gewesen und hatte sich nur um sich selber und ein seltenes Mal um seine Schwester gekümmert. Der Rest seines Lebens sollte Poona gewidmet sein. Sie würden alles teilen. Aber wenn sie müde oder erschöpft oder krank war, dann sollte sie sich ausruhen. Wenn sie Heimweh hatte, sollte sie in Indien Urlaub machen, und wenn er sie begleiten dürfte, würde er sich freuen, aber wenn sie Zeit für sich brauchte, wäre ihm das auch recht. Er würde ihr zuhören, wenn sie etwas sagte, und sie niemals unterbrechen. Sie würde viel durchmachen müssen und deshalb Verständnis und Fürsorge brauchen, vor allem im ersten Jahr. Er freute sich schon auf Weihnachten, darauf, ihr den Weihnachtsbaum und die kleinen Weihnachtsmänner und die Engel zu zeigen. Er freute sich auf den Schnee. Und er freute sich auf den Frühling und die ersten grünen Keime, die durch die Schneedecke lugten. Ihr mußte das doch wie ein Wunder vorkommen. Und auch für ihn würde es ein Wunder sein. Von nun an würde alles neu und wunderbar sein.
MARIE BETRACHTETE DAS BILD VERWUNDERT.
Sah das stolze Gesicht ihres Bruders und dann das der Inderin Poona Bai Jomann. Mit dem Silberschmuck auf der Brust. Danach schwieg sie lange. Ihr Bruder hatte sich ganz einfach eine indische Frau geholt. War in ein Tandoorirestaurant spaziert und hatte sie innerhalb weniger Stunden erobert. Welche Geheimwaffen mochte ihr Bruder besitzen, von denen sie nichts geahnt hatte? Diese Frau schien doch geradezu auf ihn gewartet zu haben, da unten in der Millionenstadt Bombay.
»Mumbai«, korrigierte Gunder. »Ja, so ist das. Sie hat da unten gesessen und auf mich gewartet. Sie kommt am 20., und dann hole ich sie in Gardermoen ab. Schau. Unser Trauschein«, sagte er stolz.
»Da hat sie natürlich einen großen Coup gelandet«, sagte
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