Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Marie. »In Indien gibt es sicher nicht viele Männer, die so gut verdienen wie du.«
»Sie weiß, daß ich nicht reich bin«, sagte Gunder.
»Ha! Du bist steinreich«, widersprach Marie erbarmungslos. »Und das weiß sie genau.«
Er musterte sie verletzt, aber das bemerkte sie nicht, denn sie starrte noch immer auf das Bild.
»Karsten kriegt sicher einen Schlag«, sagte sie. »Du mußt damit rechnen, daß die Leute sich das Maul zerreißen werden.«
Aber sie war auch gerührt. Eine Schwägerin! Damit hatte sie schon längst nicht mehr gerechnet!
»Das Gerede ist mir egal«, sagte Gunder. Und das wußte Marie ja auch. So glücklich, wie ihr Bruder jetzt war, konnte ihm nichts etwas anhaben.
»Du hilfst ihr doch ein bißchen beim Eingewöhnen«, bat er seine Schwester. »Ihr könnt doch sicher von Frau zu Frau miteinander reden. Sie ist munter und freundlich.«
»Ich frage mich ja, was Karsten sagen wird«, sagte Marie, noch immer nachdenklich.
»Das macht dir doch keine Sorgen?« fragte Gunder.
»Weiß nicht«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Im ersten Moment wird er sicher schockiert sein. Ich hoffe, alle werden nett zu ihr sein.«
»Ganz bestimmt«, sagte Gunder voller Überzeugung. »Warum sollten sie nicht?«
»Ich denke an die Jugendlichen. Die können brutal sein.«
»Die Jugendlichen sind ihr aber egal«, sagte Gunder. »Sie ist achtunddreißig.«
»Ja, ja. Ich bin einfach nur von allem ein bißchen überwältigt. Aber sie ist sehr hübsch. Was sagt ihre Familie?«
»Sie hat nur einen älteren Bruder, und der lebt in Neu-Delhi. Sie haben nicht viel Kontakt.«
»Aber wird sie sich hier wohlfühlen? In diesem eiskalten Land?«
»Es ist doch nur im Winter eiskalt«, sagte er rasch. »Und es ist bestimmt auch nicht leicht, in dieser Hitze zu leben. Hier ist die Luft frischer. Das habe ich ihr erzählt. Wir haben trockenere Luft. In Indien ist die Luftfeuchtigkeit so hoch, daß man naß ist, sowie man auf die Straße tritt. Sie will sich hier Arbeit suchen. Sie ist fleißig und lernt gern. Am liebsten würde sie als Serviererin arbeiten. Wir werden schon etwas finden.«
Marie seufzte. Ihre Finger spielten mit einem schönen Elefanten aus Elfenbein, den Gunder ihr mitgebracht hatte. Ihr Bruder war so glücklich und optimistisch, sie brachte es nicht übers Herz, diesen Optimismus anzukratzen. Aber sie machte sich so ihre Gedanken. Vor allem dachte sie an die Inderin, die in dieses kleine Dorf kommen würde, in diesen entlegenen Winkel, wo Bauern und brutale Jugendliche hausten. Besserwisser überall. Gunder würde das hinnehmen können, aber wieviel könnte diese Frau ertragen, ehe sie an Heimweh nach ihrem eigenen Volk leiden würde?
Gunder heftete das Bild von Poona und sich an seine Pinnwand. Ein Foto von Karsten und Marie mußte weichen, seine Frau sollte den besten Platz haben. Wenn er das Bild ansah, erfüllte ihn ein heftiges Rauschen, als schäume tief in seinem Innern eine Fontäne auf. Das ist meine Frau, sagte er zu sich. Ich möchte euch meine Frau vorstellen. Sie heißt Poona. Dann machte er sich mit Eifer und Bedacht ans Werk. Neue Bettwäsche für das Doppelbett. Weiß, mit Spitzen an den Kissenbezügen. Neue Decke für den Eßtisch. Vier neue Handtücher für das Badezimmer. Alle Vorhänge mußten herunter, sie wurden gewaschen und gebügelt. Marie half ihm. Das Silber mußte poliert werden, die Mutter hatte viel Silber hinterlassen. Die Fenster wurden geputzt, sie sollten richtig glänzen, damit Poona in den schönen Garten mit seinen Rosen und Pfingstrosen schauen konnte. Die Vogeltränke brauchte frisches Wasser, er schöpfte das alte mit einer Kelle heraus, weil es keinen Abfluß gab. Danach scheuerte er den Boden mit Seifenlauge und goß neues Wasser hinein. Er räumte im Garten auf, warf Abfälle fort, jätete Unkraut, harkte den Kiesweg, der zum Haus führte. Und die ganze Zeit hatte er Poonas Stimme im Ohr, spürte im Wind ihren Duft. Er sah ihr Gesicht, wenn er sich abends schlafen legte. Und spürte noch immer ihre sanfte Berührung auf seiner Nase.
Seine Arbeitskollegen waren ungeheuer neugierig. Er war braungebrannt und zufrieden und erzählte ihnen, was sie hören wollten, doch Poona erwähnte er nicht. Die wollte er noch eine Weile für sich behalten. Sie würden schon früh genug alles erfahren, schon früh genug darüber klatschen können.
»Du hast wohl die ganze Zeit in der Sonne gesessen?« fragte Bjørnsson mit anerkennendem Nicken.
Gunder wurde
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