Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
dann ist weniger Verkehr. Er faltete ordentlich die Zeitung zusammen und sprang aus dem Sessel. Stellte ein Fenster auf Kipp und wollte gerade die Schlüssel vom Haken an der Wand nehmen, als das Telefon klingelte. Unheilverkündend. Sicher ein Arbeitskollege. Die kamen ja nie allein zurecht. Deshalb klang er sehr gereizt, als er sich meldete. Es war eine Frauenstimme, er kannte sie nicht, aber er verstand jedes Wort sehr genau. Sie rief aus dem Zentralkrankenhaus an. Marie Jomann Dahl, ob er mit ihr verwandt sei? Gunder keuchte auf.
»Ja, das ist meine Schwester. Was ist los?«
»Verkehrsunfall«, war die Antwort.
Verwirrt schaute er auf die Uhr. Was hatte Marie denn jetzt angestellt?
»Ist es ernst?« fragte er verwirrt.
»Ich bin nur gebeten worden, die nächsten Angehörigen zu verständigen«, sagte die Frau ausweichend. »Darf ich es so verstehen, daß Sie kommen?«
»Natürlich«, sagte Gunder. »Ich fahre sofort los. Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«
Er verspürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Er glaubte nicht, daß etwas Gefährliches passiert sein könnte, dafür fuhr Marie einfach nicht schnell genug, aber er mußte doch Poona abholen. Natürlich würde er das auch schaffen. Marie mußte einsehen, wie wichtig das war. Er schnappte sich die Schlüssel und stürzte aus dem Haus. Fuhr unkonzentriert in Richtung Stadt und blickte dabei immer wieder auf die Uhr. Er stellte sich einen eingegipsten Arm vor und vielleicht eine Verletzung, die mit einigen Stichen genäht werden mußte. Damit ist’s aus mit dem versprochenen Rehbraten, dachte er. Aber vielleicht war ja auch ihr Auto beschädigt, und dann würde er sie nach Hause fahren müssen. Und dabei hatte sie ihn doch gebeten, vorsichtig zu fahren! Er schnaubte, um sich zu beruhigen. Fand die richtige Spur, um in Richtung Krankenhaus abzubiegen. Suchte fieberhaft nach einem Parkplatz.
»Zehnter Stock. Neurologische Abteilung«, sagte die Frau in der Rezeption.
»Neurologie«, er keuchte auf. Und lief in den Fahrstuhl. Fuhr mit hämmerndem Herzen nach oben. Poona sitzt im Flugzeug, dachte er, sie weiß, daß ich sie abhole. Das hier dauert nicht lange. Er hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen und verfluchte Karsten, der nie zu Hause war. Ihm brach der Schweiß aus. Dann hielt der Fahrstuhl. Vor der Tür stand ein Arzt.
»Herr Jomann?«
»Ja. Wie geht es ihr?«
Der Arzt hatte Probleme. Das sah Gunder sofort. Ganz vorsichtig wurde ein Wort nach dem anderen herausgelassen.
»Im Moment wissen wir das nicht so genau.«
Gunder riß die Augen auf. Sie mußten doch wissen, wie es ihr ging?
»Sie ist leider ernsthaft verletzt«, sagte der Arzt schließlich und musterte Gunder mit traurigem Blick. »Sie hat sich schwere Hirnverletzungen zugezogen und liegt im Koma.«
Gunder ließ sich gegen die Wand sinken.
»Wir haben sie an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Ein Lungenflügel ist perforiert. Wir hoffen, daß sie im Laufe des Abends aufwacht, und dann werden wir mehr wissen. Außerdem hat sie einige Brüche …«
»Einige Brüche?« Gunder wurde es schwindelig. Gleichzeitig schaute er auf die Uhr. »Was soll ich tun?« fragte er verzweifelt.
Der Arzt hatte keine Ahnung von Gunders Dilemma. Er schüttelte langsam den Kopf. »Für Ihre Schwester wäre es am besten, wenn Sie sich an ihr Bett setzten. Und mit ihr redeten. Auch, wenn sie Sie nicht hören kann. Sie können natürlich heute nacht ein Bett bekommen, wenn Sie möchten.«
Gunder dachte: Ich kann hier nicht bleiben. Poona wartet. Von allen Seiten wurde an ihm gezerrt. Aber er war doch nur einer, und er konnte sich nicht teilen. Er schwieg, weil auch der Arzt jetzt schwieg.
»Ihre Brust ist eingedrückt. Alle Rippen sind gebrochen. Ein Knie ist sehr übel zugerichtet. Ich fürchte, das wird nie mehr richtig heilen, auch wenn wir sie wieder auf die Beine bringen können.«
Auch wenn wir sie wieder auf die Beine bringen können?
Mir wird schlecht, dachte Gunder. Das Frühstück tanzte in seinem Magen herum. Eine breite Tür öffnete sich zu einem kleinen Zimmer. Er sah auf dem weißen Kissen etwas Dunkles, konnte aber nicht erkennen, daß sie das war, seine Schwester Marie. Er blieb zitternd vor dem Bett stehen.
»Wir müssen Karsten finden«, stammelte er. »Ihren Mann. Er ist in Hamburg.«
»Gut, daß wir Sie erreicht haben«, sagte der Arzt. Er rückte Gunder einen Stuhl hin. Marie war weiß, unter den Augen fast blau. Ein Schlauch war über ihrem Mund befestigt.
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