Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Gunder hörte das langsame Zischen des Beatmungsgerätes. Es hörte sich an wie ein ungewöhnlich tief schlafender Riese.
»Was uns vor allem Sorgen macht«, der Arzt räusperte sich, »sind die Kopfverletzungen. Deren Umfang werden wir erst feststellen können, wenn sie aufwacht.«
Wie meinte er das? War Marie nicht mehr sie selber? Würde sie aufwachen und ihn vergessen haben? Vergessen haben, daß sie sprechen, lachen und zwei und zwei zusammenzählen konnte? Würde sie die Augen öffnen und ihn ansehen, ohne ihn zu erkennen? Gunder hatte das Gefühl, in einen tiefen Brunnen zu stürzen. Aber dann dachte er an Poona. Ihr Gesicht tauchte immer wieder am Rande dieses Schreckens auf, und sie lächelte. Immer wieder schaute er auf die Uhr. Marie sah in dem Bett so klein aus, und ihr rundes Gesicht war aus der Form geraten. Er mußte jemandem die Sache mit Poona anvertrauen. Jemandem, auf den er sich verlassen konnte, der nicht lachen oder es nicht glauben würde. Der bereit wäre, ihm einen Gefallen zu tun.
»Marie«, flüsterte er.
Nichts passiert. Ob sie ihn gehört hatte?
»Ich bin’s, Gunder. Ich sitze hier an deinem Bett.«
Er schaute hilflos zu dem Arzt hoch. Seine Augen brannten.
»Alles wird gut«, sagte er. »Poona und ich helfen dir.«
Es half, ihren Namen laut auszusprechen. Er war nicht allein.
Die Uhr tickte weiter. Er konnte Marie nicht verlassen. Was sollte sie denn dann denken? Was sollten die Ärzte denken, wenn er den Kopf ins Stationszimmer steckte und sagte: »Ich hau jetzt ab. Ich muß jemanden vom Flughafen abholen.« Er versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, aber das war nicht möglich. Sollte er etwa eine Frau finden und eine Schwester verlieren? Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht. Der Arzt berührte seine Schulter.
»Ich gehe jetzt. Klingeln Sie, wenn Sie etwas brauchen.«
Gunder rieb sich die Augen. Auf wen konnte er sich verlassen? Enge Freunde hatte er nicht. Hatte auch nie welche haben wollen. Oder welche finden können, so genau wußte er das jetzt nicht mehr. Die Zeit verging. Das Beatmungsgerät quälte ihn mit seinem Zischen, er hätte es ausstellen mögen, um ihm nicht mehr zuhören zu müssen. Das Geräusch verursachte ihm ganz einfach Atemnot. Endlich ließ er Maries Hand los und sprang auf. Lief auf den Gang und fand ein Telefon.
Gunder fuhr nie Taxi, wußte die Nummer aber auswendig. Sie stand mit schwarzen Ziffern auf Kalles Mercedes. Kalle meldete sich nach dem zweiten Klingelton.
»Kalle. Hier ist Gunder Jomann. Ich bin im Zentralkrankenhaus. Meine Schwester hatte einen Autounfall.«
Am anderen Ende der Leitung war es ganz still. Gunder konnte Kalles Atem hören.
»Wie schrecklich«, sagte Kalle dann mit ernster Stimme. »Kann ich irgend etwas tun?«
»Ja!« rief Gunder. »Es ist nämlich so, daß ich Besuch aus dem Ausland erwarte. Aus Indien«, fügte er hinzu.
Das verschlug Kalle die Sprache. Er wußte von Gunders Indienreise und ahnte jetzt eine Sensation.
»Sie landet um sechs mit der Maschine aus Frankfurt und rechnet damit, daß ich sie abhole. Aber ich kann Marie jetzt nicht allein lassen. Sie liegt im Koma«, stöhnte er.
»Ach, so schlimm?« Kalles Stimme war fast nicht zu hören.
»Kannst du sie für mich abholen?«
»Ich?« fragte Kalle.
»Du mußt nach Gardermoen fahren und sie abholen. Du hast doch ein Taxi, da kannst du ja wohl am Haupteingang halten. Ich bezahle alles. Aber du mußt sofort losfahren, wenn du es schaffen willst. Wenn sie mich in der Ankunftshalle nicht finden kann, geht sie vermutlich zur Information. Sie kommt aus Indien«, sagte er noch einmal. »Und sie hat einen langen dunklen Zopf. Ist etwas jünger als ich. Und wenn du sie nicht siehst, dann mußt du sie ausrufen lassen. Sie heißt Poona Bai.«
»Kannst du das noch einmal wiederholen?« fragte Kalle unsicher.
Das konnte Gunder.
Endlich hatte Kalle begriffen. »Soll ich sie dann zu dir nach Hause fahren?«
»Nein, hierher. Ins Zentralkrankenhaus.«
»Ich brauche die Flugnummer«, sagte Kalle. »Da oben landet doch eine Maschine nach der anderen.«
»Die habe ich zu Hause vergessen. Aber sie landet um Punkt sechs. Aus Frankfurt.«
Gunder spürte, wie die Verzweiflung in ihm Überhand nahm. Er dachte daran, wie schrecklich Poona sich fürchten würde, wenn sie ihn nicht fand.
»Kalle«, flüsterte er. »Sie ist meine Frau. Verstehst du?«
»Nein«, sagte Kalle entsetzt.
»Wir haben am 4. August geheiratet. Und sie wird in Elvestad
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