Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
war.«
Sejer stützte das Kinn in die Hand.
»Das ist doch einfach unmöglich. Daß er sich so weit vorwagt.«
»Ja«, sagte Skarre. »Unmöglich. Aber es wäre besser, wenn ich nichts mehr mit ihr zu tun hätte. Dann geht sicher alles von selber vorüber.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Locken. Danach standen sie erst recht zu Berge. »Du fährst noch einmal zu Gøran Seter?«
»Ich werde ihn richtig in die Mangel nehmen. Und wenn mir das später einen Rüffel von oben einbringt, dann nehme ich den auch hin, damit wir endlich weiterkommen. Damit wir Gøran zumindest ausschließen können.«
»Er ist es nicht«, sagte Skarre. »Soviel Glück haben wir nicht.«
»Ich verstehe, was du meinst. Außerdem haben wir Kolding. Aber der hat sich aufrichtig überrascht gezeigt, als ich ihn mit der Aussage von Torill von der Tankstelle konfrontiert habe. Hat behauptet, er sei geradewegs in die Stadt gefahren. Hat überhaupt nichts mehr kapiert. Sagt, sie müsse sich geirrt haben. Aber sieh dir alles an, was inzwischen gegen Gøran vorliegt, und überleg dir das alles noch einmal. Er hat was sein Alibi für den Mordabend betrifft, gelogen. Und fährt ein Auto, wie Linda es beschrieben hat.«
»Bei Linda müssen wir auf der Hut sein.«
»Egal. Es ist ein Auto erwähnt worden. So eins, wie er es fährt. Er ist zum fraglichen Zeitpunkt am Tatort vorübergefahren. Er hatte Kratzer im Gesicht.«
»Von seinem Hund.«
»Sagt Gøran. Er trägt nagelneue Turnschuhe. Er trug ein weißes Hemd und eine dunkle Hose, so, wie Linda es an dem Mann auf der Wiese gesehen hat. Als er dann zu Hause eintraf, hatte er andere Kleidung an. Warum hat er sich umgezogen? Er trainiert häufig. Er ist stark. Und es ist durchaus möglich, daß er sich dopt. Was einen Mann aus dem Gleichgewicht bringen kann. Irgendwann. Ulla hat gesagt, daß er im Adonis noch geduscht hat. Und er selber gibt zu, daß er zu Hause gleich unter die Dusche gegangen ist. Was wollte er dabei wegspülen?«
Skarre trat ans Fenster. Vertiefte sich in den Anblick des Flusses und der Boote.
»Wenn ich mich bei Linda irre, dann werde ich wohl meine Strafe hinnehmen müssen«, sagte er mutlos.
»Wie wäre es, Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen?« fragte Sejer. »Wenn sie wirklich überfallen worden ist, muß die Mutter das doch auf irgendeine Weise bemerkt haben.«
Skarre nickte. »Außerdem hat sie eine Freundin, Karen. Der hat sie das sicher erzählt.«
»Dann kümmerst du dich um die Damen«, sagte Sejer. »Das ist doch deine starke Seite.«
Skarre schnaubte. »Kollberg«, sagte er. »Wann kommt der unters Messer?«
»Morgen abend«, sagte Sejer. »Erwähn das bitte nicht. Ich werde dich in meinem eigenen Tempo auf dem laufenden halten.«
»Grüß schön«, sagte Skarre.
Gøran Seter war einmal ein Junge gewesen. Ein blonder Bubi, der auf dem übersichtlichen Hofplatz herumgelaufen war. Seine Mutter hat ihn vom Fenster aus beobachtet, dachte Sejer, hat durch die Glasscheibe hindurch das Kind beobachtet. Hat ihn abends zugedeckt. Viele Momente hintereinander ergeben ein Leben. Vielleicht waren die meisten davon gut. Trotzdem kann man in dem einen bösen landen. Das Leben ist mehr als Gedanken und Träume. Das Leben ist ein Körper, Muskeln und Puls. Gøran hatte seit Jahren diesen Körper trainiert. Hatte seine Muskeln aufgepumpt, bis die sich wie Taue unter seiner Haut abzeichneten. Was wollte er damit, abgesehen davon, immer schwerere Gewichte zu stemmen? War es eine Frage der Eitelkeit oder vielleicht eine Besessenheit? Wovor fürchtete er sich? Was wollte er verstecken, indem er sich in einen Panzer aus steinharten Muskeln verkroch? Ein Hund bellte im Haus, und er erkannte hinter dem Fenster ein Gesicht. Auf der Treppe tauchte ein Mann auf. Er stellte sich hin wie ein Türsteher und schlug die Arme übereinander. Musterte Sejer respektlos von Kopf bis Fuß. Er war nicht so kräftig und durchtrainiert wie sein Sohn, seine Stärke lag in dem harten Blick und der abweisenden Haltung.
»Ach. Sie mal wieder. Gøran ist in seinem Zimmer.« Torstein Seter führte ihn in den ersten Stock. Öffnete, ohne anzuklopfen. Gøran saß auf einem Stuhl mitten im Zimmer, er trug ein blaues Unterhemd und war barfuß. In jeder Hand hielt er eine Hantel. Die Hanteln waren glatt und rund, dünn in der Mitte, an jedem Ende saß eine Kugel. Er hob sie abwechselnd in regelmäßigem Rhythmus. Eine Sehne an seinem Hals zitterte jedesmal haarfein. Er schaute Sejer an, ließ sich
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