Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
Melhus als VJ seine Fundstücke bei YouTube vorstellte. Das Revival
abgelegter künstlerischer Formen setzt diese frei, wie künstlerischer Fotofilm und analoge Techniken wie Stopptrick, das Gestalten
mit Einzelbildern nach Trickfilmprinzipien und Lowtech-Kunstformen mit Lomo-Effekt zeigen. Damit sind die User von YouTube
sehr fortschrittlich mit der Art ihrer Produktion |242| , die hybriden Bewegungsbilder des Kinos werden heute nach ähnlichen Prinzipien erstellt (vgl. Richter 2008).
Die Funktion ist neben Selbstdarstellung und Huldigungen des Verehrten immer die Mitteilung des Individuums an die Community.
Die bewegten Bilder sind ein mögliches Daten- beziehungsweise Ausgabeformat der
social software
und dienen der Interaktion und dem Teilen von Daten mit anderen Nutzern (vgl. Richard 2008a). Die Übertragung der Kategorien
von H.D. Huber (2001) zur Netzkunst auf YouTube zeigt, dass es sich um eine partizipative Plattform handelt, auf der der User
durch Download, Bearbeiten, Einsenden von Text, Bildern, Tönen und Filmen zu einer dauerhaften Formveränderung des jeweiligen
Projektes beitragen kann. Die Clips, das mediale Rohmaterial sind per se reaktiv, das heißt der Nutzer klickt, um zu abzuspielen,
interaktiv sind sie auf den ersten Blick nicht. Sie sind in einer veränderten, viel umfassenderen Form partizipativ: die visuell
innovativen Clips regen dazu an, einen eigenen Clip als Antwort zu produzieren. Dieser bildet dann zusammen mit dem Ursprungsclip
ein auf unterschiedlichen Ebenen vernetztes Gesamtprojekt, das sich permanent verändert. Der Schwerpunkt einer Netzkunst 2.0
hat sich von der Interaktion zur Kommunikation in sozialen Netzwerken verschoben. YouTube-Clips sind eine randständige Ergänzung
und Auffrischung der Kunst, parallel zum Web 2.0-Journalismus. Vorher unsichtbare kreative Alltagspraxen werden sichtbar,
die schon vorher vorhanden waren, aber auch neuartige angeregt durch die mediale Form. Es findet keine neue Ästhetisierung
des Alltags statt, da das kreative Potenzial bisher auch schon da war, aber nicht sichtbar und offenkundig (vergleichbar mit
den nur als Teilbereiche des Trivialen wahrgenommenen Feldern, wie das Sammeln und die Fanart). Es entsteht eine medienadäquate
grassroot art
, die anschließend an Ullrichs (2005) Präferenz der hauptsächlich unterhaltenden Kunst, als eine
l’art pour l’ego et
les amis
zu bezeichnen wäre. Diese Videos zeichnen sich durch Qualitäten aus, die aus der Videokunst abgeleitet werden: Spannungsbogen,
Schnitt, Synästhesie, Rhythmisierung, visuelle Qualität der Bilder, Abstraktion. Es ist auch eine Anschlussfähigkeit an klassische
Stile und Genres der Bildende Kunst gegeben: Collage,
Art Brut
(kindliche Schemata wie Strichmännchen),
Arte Povera
(arme, minderwertige Medienmaterialien),
appropriation art
und Performance.
Medienadäquat sind die Video-Kerne (die Unikate!) eines Online-Video-Gesamtkunstwerkes (wie die
misheard lyrics
bei
Wishmaster
). Sie sind Prototypen einer Video- und Medienbricolage. Damit stoßen sie ein fraktales, |243| selbstemergentes Videonetzprojekt an, ein vernetztes
videoscape
, eine mediale Landschaft, die nicht hierarchisch dezentral und viral ist. Eine neue Bildguerilla als Bildfreibeutertum ist
in den kommerziellen Strukturen des Google-Imperiums tätig. Hier wird nicht die mediale Technik okkupiert, sondern die medialen
Bilder egal welchen Ursprungs. Sie werden erobert und weiterverarbeitet, unbeachtet bleibt, von wem, wo oder wann sie hergestellt
wurden. Mit den kreativ künstlerischen YouTube-Clipkategorien entsteht durch
appropriation
(Aneignung) im visuellen Hypertext eine mediale Bastard Kunst im Sinne von
social artworking
, das die visuelle mediale Landschaft bis hin zur Medienkunst beeinflusst und die visuellen Kompetenzen der sozialen Netzwerke
verändert.
Tabelle 1: Übersicht Clipkategorien, Hauptkategorien halbfett gesetzt.
|244| Literatur
Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan (1997), »Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm«, in: S. Hirschauer/K. Amann (Hg.),
Die Befremdung der eigenen Kultur.
Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie
, Frankfurt/M., S. 7–52.
Böhm, Gottfried (2008), »Die ikonische Differenz ist eine Grundüberlegung zu der Frage, wie Bilder Sinn erzeugen. Ein Gespräch
mit Birgit Richard«, in: Birgit Richard/Sven Drühl (Hg.),
Denken 3000 Kunstforum Interational
, S. 134–140.
Daniels, Dieter (2002),
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