Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
Kitsch, nutzten aber auch die inhaltliche Ebene, um die perfekte und damit kühle Moderne in Frage
zu stellen. Das wohl bekannteste Dekor
Bacterio
von Ettore Sottsass greift das Spannungsfeld zwischen Schmutz und übertriebener Hygiene in der Industriegesellschaft auf,
indem es eine mikroskopierte Bakterienstuktur aufnimmt und diese als stilisiertes Schmutz-Dekor wieder auf Tische, Stühle
und Regale aufbringt (vgl. Fischer 1984: 32). Der Beistelltisch
tony no. 3
von Ettore Sottsass (Abbildung 2) zeigt das Dekor
Bacterio
sowie das für Memphis charakteristische Design, das meist Grundkörper nutzt und durch verschiedene Aufteilungen der Oberflächen
Farben und Strukturen collagenhaft miteinander verbindet.
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Abbildung 2: tony no. 3 von Ettore Sottsass Jr. (1973)
(Quelle: Anthologie Quartett/Foto: Kai Georg, 2001)
Instant-Collagen durch Sampling-Design
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts kann von einer »Weltproduktkultur« (Selle 2007: 295) gesprochen werden, die ihrerseits
vom Überfluss geprägt ist. Denn die Digitalisierung von Produktion, Produkten und Medien hat zu immer kürzeren Produktzyklen
geführt und damit die Zahl der verfügbaren Produkte explodieren lassen. Die internationale Verflechtung von Wirtschaft, Politik
und Kultur hat darüber hinaus ein globalisiertes Design hervorgebracht: Die weltweit gleichen Produkte internationaler Konzerne
ignorieren und verdrängen kulturelle Eigenarten. Dadurch verschwinden auch regional gewachsene Leitbilder und traditionelle
Orientierungsmuster: Die funktionale Arbeitseffizienz eines Bankangestellten unter der Woche stellt keinen Widerspruch mehr
zur kollektiven Ekstase auf Techno-Raves in der Freizeit dar (vgl. Böhme 2006: 22). Auch der Besuch eines Sinfoniekonzertes
ist heute mit der Vorliebe für populäre elektronische Musik vereinbar – die Distinktion als eines der Leitmotive der Konsummilieus
Mitte der achtziger Jahre ist obsolet geworden (vgl. Schulze 2001: 580).
|63| Der heutige Konsument zeichnet sich nach Ansicht des Soziologen Gerhard Schulze durch seine Selektionskompetenz aus und kann
darum als »abwechslungsorientierter Kulturkompositeur«, als »wählender in einer Menüwelt« beschrieben werden (ebd.: 579).
Zusätzlich zu dieser sehr differenzierten Auswahlfertigkeit hat sich eine Freude an der Kombination ausgebildet. Die eingangs
am Beispiel der Mode beschriebe Methode, Elemente aus verschiedenen Bereichen zusammenzufügen, wird in der Popkultur auch
sampling
genannt. Bei ihr wird »Identität durch die Modellierung von Abweichungen und Differenzen konstituiert« (Gaugele 2005: 223f.),
die feinen Unterschiede aus einem breiten Netz von Bedeutungen moduliert, wie Elke Gaugele in einem Aufsatz zum Thema Individualität
und Uniformität darstellt. Auch bei Schulze wird die ästhetische Wirkung eines Produktes anhand seiner Beziehung zur Gesamtcollage
der Umwelt einer Person abgeleitet. Die Integration in unterschiedliche Lebenskontexte löst das Produkt dabei aus seiner »massenhaften
Vorgestanztheit« (Schulze 1997: 120) heraus. Ein Beispiel macht dies deutlich: Ob die von Michele de Lucchi entworfene Schreibtischleuchte
Tolomeo
in einem modernen Ambiente oder einem Umfeld aus Stilmöbeln steht, verleiht der Gesamtsituation eine Aussage, die im Einzelstück
nicht abzulesen ist. Erst die Komposition des Konsumenten erzeugt mit ihrer Vielzahl an Bezügen und Geschichten die letztendliche
Bedeutung. Diese sehr komplexe Ästhetik wird heute von Möbeldesignern aufgenommen und in neue Produkte überführt. Die Spanierin
Patricia Urquiola aus Mailand setzt bei Ihrem Polstermöbelprogramm
Shanghai Tip
für Moroso aus dem Jahr 2006 (Abbildung 3) unterschiedliche Stoffqualitäten und Muster ein, kombiniert diese mit Beistelltischen
in verschiedenen Lackfarben und Laminaten-Dekoren. Es entsteht eine Komposition mit vielfältigen Stilbezügen, die die persönliche
Zusammenstellung als ästhetisches Endprodukt feiert und durch die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten zur Addition von weiteren
Elementen einlädt.
Self-Made-Ästhetik durch improvisiertes Design
Nutzt man – wie die Designerin Patricia Urquiola im Vorwort der
International
Design Yearbook 2007
– die Analogie des iPods zur Beschreibung der Produktwelt, so ist der im vorangegangenen Kapitel beschriebene Aneignungsprozess
mit der Zusammenstellung einer
playlist
zu vergleichen, bei |64| der man aus einem vorgegebenen Fundus bewusst
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