Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
eigentlichen
Hand anlegen
ist aber auch der reflexive Umgang mit den Modifikationen sowie den damit verbundenen Erlebnissen in die alltägliche Routine
übergegangen. Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt den Reflexions-Prozess folgendermaßen:
»Gelungene Erlebnisse sind nicht einfach gegebene Eindrücke, die man zuerst hat, um sie dann mehr oder weniger kompetent zu
beschreiben; vielmehr sind Erlebnisse Konstruktionen, deren Eigenart unweigerlich durch die Beschreibung mitgeprägt wird.
Gefühle sind psychophysisches Rohmaterial, aus dem sich ganz unterschiedliche Gestalten bilden lassen. Was schließlich als
Erlebnis herauskommt, hängt maßgeblich von der reflexiven Aneignung der Gefühle ab.« (Schulze 2003: 224)
Der erfinderische Umgang mit alltagsästhetischem Rohmaterial und die reflexive Bedeutungszuschreibung erzeugen demzufolge
Formen und Bedeutungen, die weit über die Intention des jeweiligen Produzenten hinausgehen, diese teilweise sogar in das Gegenteil
umkehren (vgl. Winter 1995: 120f.). So werden
Weck-Gläser
, die vielen vom Einkochen von Früchten aus Großmutters Küche bekannt sind, heute als Kuchenbackform genutzt und damit zum
trendigen Mitbringsel auf Partys. Subversive Techniken werden im Rahmen der Aneignung folglich sichtbar und unsichtbar, bewusst
und unbewusst verfolgt. Überträgt man die Metapher des Guerilla-Kampfes auf diesen Sachverhalt, so verlaufen die Fronten in
diesem Konsum-Krieg überkreuz. Denn die Produkte, ihre Verwendung und Bedeutungszuschreibung werden in einem gegenseitigen
Aushandlungsprozess ständig neu aufgeladen und rezipiert.
Aneignung von Einrichtungsgegenständen
Aus der Einrichtung einer Wohnung kann man – analog zum persönlichen Kleidungsstil – auch viel über die Persönlichkeit eines
Menschen erfahren. Interessant ist im Vergleich zur Kleidung jedoch der größere Bezugsrahmen. Denn Möbel werden aufgrund ihres
höheren Preises seltener konsumiert und länger genutzt. So vermischen sich in den Wohnungen Stile, Materialien und Lebenszusammenhänge
der letzten Jahre und Jahrzehnte zu einem Gesamtbild, das zusätzlich durch die Anordnung der Gegenstände geprägt wird. Beachtenswert
ist auch das Spannungsfeld, das durch das |58| Übernehmen von Einrichtungsstilen der Eltern in Kombination mit eigenen Wohnideen entsteht.
Abbildung 1: Reifensofa von des-in (1975)
(Quelle/Foto: Jochen Gros, 1975)
Die Bedeutung der perfekten, die eigene Persönlichkeit beziehungsweise das Ich-Ideal widerspiegelnden Einrichtung hat in den
letzten Jahren deutlich zugenommen. Die große Menge von Einrichtungszeitschriften am Kiosk und das Aufgreifen dieser Thematik
in anderen Medien bestätigen dies. Im Film
Fight Club
von David Fincher stellt sich der Protagonist tatsächlich die Frage, welche Esszimmergarnitur seine Persönlichkeit definiere.
In
American Psycho
von Mary Harron erzeugt die durchgestylte, schneeweiß eingerichtete Wohnung des Patrick Bateman einen Eindruck von Virginität
und Künstlichkeit und bildet damit einen ästhetischen Gegenpol zu seiner Gier nach Blut und Gewalt. Die zunehmende Popularität
von Home-Stories bildet ein weiteres Beispiel. Hier fungieren die Wohnungen der Stars als Identitätsvorbilder für Konsumenten,
die aufgegriffen und gesampelt werden können.
Aneignungsprozesse sind in diesem Spannungsfeld besonders interessant, denn die Bindungen zu Gegenständen und die Auswirkungen
von Eingriffen erstrecken sich über einen längeren Zeitraum, überschneiden |59| oder verändern sich. Möbeldesigner greifen diese gewachsene, vielschichtige Ästhetik zunehmend auf und unterwandern damit
die eigenen Leitbilder der Perfektion, um sie in neue Formen zu überführen. Erstmals kann ein solcher Bruch in der ästhetischen
Evolution in den siebziger Jahren beobachtet werden: Die lange Vorherrschaft des Funktionalismus mit seiner kompromisslosen
Perfektion und Kälte wurde damals in Frage gestellt. 2
Alternativer Konsum durch Recycling-Design
Parallel zu den politischen Diskursen wurde in den Jahren nach 1968 auch die Gestaltung und der Umgang mit Produkten kritisch
hinterfragt und bewertet. So beanstandete beispielsweise der Designtheoretiker Tomás Maldonado 1970 die »künstlich beschleunigte
Alterung des Produktes durch frühzeitigen funktionalen Verschleiß oder ästhetischen Verfall angesichts neuer Formen am Markt«
(Selle 1987: 274). Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug ging in
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