Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
eine Folge bestimmter Titel von verschiedenen Interpreten auswählt (vgl. Urquiola
2007: 6). Eine andere Art, Titel aus dem eigenen Musikarchiv zu hören, besteht in der Random-Funktion, also der Zufalls-Wiedergabe.
Diese basiert ebenfalls auf der eigenen Grundauswahl von Titeln auf dem iPod, fügt dieser Grundauswahl jedoch noch etwas Spontanes,
Unvorhergesehenes hinzu.
Abbildung 3: Shanghai Tip von Patricia Urquiola (2006)
(Quelle: Moroso/Foto: Alessandro Paderni – Eye srl, 2006)
Der Aneignungsprozess des Improvisierens nutzt die zufällige Kombination von Vorhandenem, teilweise auch Unpassendem als Anstoß
für einen kreativen Prozess. In diesem Vorgang werden lineare Kausalbeziehungen zugunsten einer höheren Komplexität von Situationszusammenhängen
aufgelöst (vgl. Dell 2002: 16). Das Besondere dieser Form der Aneignung besteht einerseits im Zusammenhang zwischen eigener
Kreativität und dem Produkt, sowie der dadurch entstehenden höheren persönlichen Verbindung, andererseits in der Offenheit
des entstandenen Ganzen: Es ist nie abgeschlossen, fordert ständig zur Optimierung oder dem Hinzufügen weiterer Elemente auf.
Auch auf der ästhetischen Ebene zeichnen sich improvisierte Produkte durch unterschiedliche Stilelemente und Brüche, vielfältige
Bezüge sowie eine unperfekte, rohe Erscheinung aus. Dieser Bedeutungsreichtum wird auch an andere Rezipienten weitergegeben,
da unterschiedliche Sichtweisen und Anknüpfungspunkte mit den gegebenen Anschlussmöglichkeiten verbunden werden können. Diese
Aneignungsstrategie provoziert somit den bewussten Bruch mit der vorgegebenen perfekten, wie Selle sagt, totalästhetisierten
Produktkultur (vgl. Selle 2007: 338) unseres Alltags.
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Abbildung 4: Blossom von Hella Jongerius (2006)
(Quelle: Belux, Foto: Felix Wey, 2007)
Die Produkte der holländischen Designerin Hella Jongerius spiegeln diesen Ansatz mustergültig wider, denn sie brechen die
Perfektion auf, zeigen die Suche nach neuen Materialbezügen sowie eine Verbindung von Handwerkskunst, neuen Materialien und
Fertigungstechniken. Ebenso ist ein gewisses Maß an Zufälligkeit Teil des ästhetischen Reizes. Dies ist etwa an der Vasenserie
Prince und Princess
aus dem Jahr 2000 zu sehen, bei der dekorative Motive wie Blumen oder Drachen als Lochmuster in eine weißer Porzellanform
eingebracht wurden. Diese traditionelle Technik der Unterglasur-Dekore 5 wurde in ein zeitgenössisches Design überführt, indem die Löcher mit blau beziehungsweise rot eingefärbtem Silikon gefüllt
wurden. Die ungleichmäßige, verschmierte Silikonfüllung macht den improvisiert wirkenden Reiz dieser Serie aus. Ein anderes
Produkt ist die Leuchtenserie
Blossom
des Herstellers
Belux
von 2006 (Abbildung 4). Hier wurden Leuchtenschirme in unterschiedlichen Formen und Materialien kombiniert und an ein |66| roh wirkendes Rohr montiert. Die teils technisch, teils dekorativ wirkenden Details erwecken ebenso den Eindruck einer selbst
gebauten Leuchte wie die außenliegende, undefinierte Kabelführung. Die Ästhetik der Improvisation ist hier in der Perfektion
eines industriellen Serienproduktes angekommen und unterläuft die subversive Brechung des sterilen Konsumgutes durch kommerzielle
Verwertung.
Individualisierte Serienprodukte?
Die vorgenannten Beispiele haben gezeigt, wie Verbraucher und in Folge auch Gestalter auf vorherrschende Stile und einheitliche
Leitbilder reagieren. Denn die Reduktion von ästhetischer Vielfalt widerspricht dem Wunsch, sich originell und einzigartig
darzustellen, ständig neue Erfahrungen zu machen und neue Eindrücke zu gewinnen. Auf die Nüchternheit und Kälte einer funktionalistischen
Umwelt wurde in den sechziger Jahren nach kurzen Phasen des Entwurfs- beziehungsweise Konsumverzichts mit subversiven, stark
abändernden Aneignungsstrategien reagiert. Das globale Design und die damit verbundene stilistische Einheitlichkeit aktueller
Produkte haben zu weiteren Strategien mit dem Ziel einer »Entmassung« (Jenß 2005: 204) der Serienprodukte geführt. Das Sampeln
verschiedenster Stilrichtungen zu einem neuen Gesamtbild oder der improvisierende Umgang mit Industrieprodukten zeigen den
hohen Grad der Ausdifferenzierung unserer Konsumkultur. Wie stark Konsumverhalten und Produktgestaltung aneinander gekoppelt
sind, ist vor allem an der Entwicklung zu einer collagenhaften Ästhetik zu sehen. Sie ist von der Kontingenz der Alltagshandlungen
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