Kontrollverlust - Kontrollverlust
immer. Was will er denn? Er sieht den Kleinen doch jedes zweite Wochenende.«
»Zwei Wochen sind eine verdammt lange Zeit für einen Achtjährigen. Kevin entgleitet ihm langsam. Inges neuer, dieser André, ist Geschäftsmann, oder Unternehmensberater oder was weiß ich, hat einen Haufen Geld, fliegt ständig herum – das ist eine völlig neue Welt für Kevin. Und dann diese Privatschule. Das ist nicht Klaus’ Ding. Die beiden werden sich immer fremder.«
»Hat er dir das erzählt?«
»Nein, Janine. Ich soll dich fragen, ob du mal mit Klaus reden kannst. Sie macht sich echt Sorgen.«
»Moment. Janine bittet dich, mich zu bitten, mit ihrem Stecher zu reden? Geht das nicht auch auf dem kurzen Dienstweg? Die beiden sind ein Paar! Paare sollten miteinander reden.«
»So wie wir?«
»Genau. Wie wir.«
»Er schweißt und hämmert seit Wochen in seiner Garage herum und lässt keinen rein, sagt Janine. Und wenn er mal rauskommt, eigentlich nur, um zu essen oder im Internet rumzustöbern.«
Rünz wurde aufmerksam. Dass Brecker ihm wenig über seine familiären Probleme erzählte, damit konnte er gut leben. Aber er baute etwas, von dem Rünz keine Ahnung hatte – sehr ungewöhnlich. Mehr noch, ein Vertrauensbruch. Sie ließ ihm wieder keine Zeit zum Nachdenken, das Thema Klaus schien für sie vorerst abgehakt, sie platzierte einen abrupten Themenwechsel.
»Übrigens – der Dalai Lama kommt nächste Woche nach Frankfurt, in die Commerzbank-Arena.«
»Danke für die Vorwarnung«, sagte Rünz. »Ist die Grinsmaschine Eintracht-Fan?«
»Er besucht dort kein Fußballspiel, er tritt auf, um zu den Menschen zu sprechen.«
»Ach so – sicher als Vorprogramm zum Rammsteinkonzert.«
Seine Frau ging nicht auf seine dummen Sprüche ein. »Ich würde da gerne hingehen«, beharrte sie.
»Und wer kümmert sich um mich, wenn du weg bist? Wer macht mir was zu essen?«, fragte Rünz entrüstet.
»Ich hätte gerne, dass du mich begleitest«, sagte sie. Und sie schien es wirklich ernst zu meinen. »Übrigens«, schob sie nach. »Ich finde, du könntest mal wieder zum Friseur gehen.«
22
Manche Vorgänge erstreckten sich über sehr lange Zeiträume. Zum Beispiel Kontinentalverschiebungen. Oder Dialoge in Quentin-Tarantino-Filmen. Aber was war das alles gegen eine Schwitzkur in der Sauna des Darmstädter Jugendstilbades.
Rünz war nicht freiwillig dort. Er lebte in einer Art Fundamentalopposition zur großen Mehrheit seiner Landsleute, und so teilte er auch nicht die unter aktiven, gesundheitsbewussten und experimentierfreudigen Menschen verbreitete Auffassung, man müsse alles im Leben mal ausprobiert haben. Schon gar nicht den Besuch einer Sauna. Die aufwendige Sanierung des Bades hätte eigentlich Gelegenheit geboten, dieses wunderschöne Gebäude einer sinnvollen Nutzung zuzuführen – der Kommissar dachte dabei zum Beispiel an ein Museum für Handfeuerwaffen oder eine Dauerausstellung über Leben und OEuvre von Chuck Norris.
Und von den ästhetischen Kollateralschäden dieses finnischen Kampfsportes mal ganz zu schweigen. Kleidung diente ja nur in zweiter Linie dem Schutz vor Witterung und der Präsentation modebewusster Zeitgenossenschaft. Ihr Hauptzweck war die Tarnung körperlicher Unzulänglichkeiten; es gab also keinen Grund, sie in Gegenwart anderer Menschen abzulegen, wenn es nicht aus Gründen der Fortpflanzung oder wegen medizinischer Untersuchungen geboten war.
Rünz hatte sich seit seiner Kindheit nicht mehr nackt unter Nackten bewegt und beim ehelichen Vollzug stets auf Abdunkelung bestanden. Jetzt und hier, unter Dutzenden von unbekleideten Männern, die mit großer Selbstverständlichkeit ihr Gemächt präsentierten, musste er sich eingestehen, was sein Unterbewusstsein schon immer gewusst hatte – er war definitiv unterdurchschnittlich ausgestattet. Und die neuen Unterhosen von seiner Frau bestätigten nur diese unbequeme Diagnose. Aus dieser Perspektive erschien ihm seine Vorliebe für zierliche Frauen plötzlich plausibel. In Relation zu einer kleinen Frau war sein Dödel ja wiederum mindestens Durchschnitt. Rünz beschloss, den Gedanken in der nächsten Paartherapie anzusprechen; die beiden Damen würden begeistert sein über seine Bereitschaft zur unbequemen und durchaus schmerzhaften Selbstreflexion.
Der Schweiß lief dem Kommissar die Stirn hinunter und brannte in seinen Augen. Wie paralysiert starrte er auf die Sanduhr an der Wand, die sich einen Spaß mit ihm zu erlauben
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