Kopernikus 1
keine Flucht aus dem Gefängnis ihres Geistes.
Sie zwang sich dazu, ihren üblichen Pflichten nachz u kommen, doch bevor sie den Hauptgürtel erreichten, gab es nur wenig zu tun, und selbst diese Routinehandgriffe blieben immer gleich. Von Zeit zu Zeit gewahrte sie eine zufällige Fluktuation im Energiepegel des Schiffes, doch ihre besorgten Bemühungen, die Ursache herauszufi n den, führten zu nichts, und so verlor sie es wieder aus den Augen. Sie hielt es nicht für nötig, dies in ihren ku r zen Gesprächen mit Dartagnan zu erwähnen – sie sprach nur dann mit ihm, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Sie aß lustlos in ihrer eigenen Kabine, schlief schlecht, träumte Träume voller intensiv erlebter Schrecken, die sie auch in ihren Wachperioden verfolgten. Sie versuc h te, die Bücher zu lesen, die in ihrer Privattruhe lagen – das war stets ihre Zuflucht gewesen –, doch selbst sie waren nun beschmutzt durch die Tatsache, daß einst Da r tagnans Hände sie gehalten hatten, sein Geist die Seiten verschlungen und er die innersten Gedanken gelesen ha t te. So ließ sie sie wieder in der Truhe verschwinden, sie haßte sie, haßte alle Männer. Sie haßte selbst ihren eig e nen Vater, der in seiner Schwäche, unfähig, den Sohn zu zeugen, den er sich gewünscht hatte, ihr diese Bücher geschenkt hatte, und sie ermunterte, in eine Männerrolle zu schlüpfen, in einer Welt, die ein solches Benehmen niemals akzeptieren würde. Und allmählich glitt sie an nachgebenden Wänden tiefer und tiefer hinab in eine formlose Schwärze, wo nichts von Bedeutung war; sie wußte, sie brauchte etwas, um sich daran festzukla m mern, doch fehlte ihr die Kraft, eine Hand auszustrecken und danach zu greifen.
Sie nahm alle verfügbare Kraft zusammen, um den funktionellen Akt der Nahrungsaufnahme noch einmal zu vollziehen, obwohl ihr Magen ein winziger, zusamme n gezogener Klumpen der Ablehnung war. Sie schlüpfte aus ihrer Kabine, in dem Vertrauen, Chaim habe die se i ne nicht verlassen, und ließ sich hinabfallen in den Spe i seraum.
Die Quartiere der Mutter waren für zwei Personen g e räumig, da sie eigentlich für eine achtköpfige Mannschaft konzipiert war. Sie schreckte vor der Einsamkeit der Ha l len zurück, nachdem sie sich an die winzige Sicherheit der Gebärmutter ihrer Kabine gewöhnt hatte.
Doch als ihre Augen wieder einen Blick für die her r schenden Größenverhältnisse gefunden hatten, erkannte sie, daß sie nicht allein war. Chaim balancierte leicht auf einem Sitz an der nahen Seite des großen Tisches, der das Zentrum des Raumes ausmachte. Er wandte sich um, als sie eintrat, sein Gesicht war fast begierig. Hastig sah sie weg, aber nicht hastig genug. Ihre Füße berührten mit einem Klicken die spiegelnde Oberfläche des Fußbodens.
„Mythili …“
Störrisch wandte sie sich von ihm ab und ging zu den Nahrungsbehältern. Einem davon entnahm sie einen Container und stellte ihn in den Erhitzer, ohne auch nur darauf zu achten, was es war. „Was machst du hier?“ fragte sie aufgebracht. Sie hatte fast unbewußt ihren T a gesablauf verschoben, so daß sie zu den ungewöhnlic h sten Zeiten aß und schlief, um ihm ja nur nicht zu bege g nen.
„Ich warte auf dich.“
„Warum? Gibt es Probleme mit dem Schiff?“ Sie drehte sich halb um und sah zurück. Die kleine, undef i nierbare Energiefluktuation kam ihr wieder zu Bewuß t sein.
„Ja.“ Er straffte sich, hielt am Tisch die Balance und wartete auf eine Antwort. „Mit der Mannschaft, ve r dammt noch mal!“
„Was meinst du damit?“ Erneut wandte sie ihr Gesicht ab, um dem Ärger in seiner Stimme zu entgehen.
„ Wen meine ich damit. Ich meine uns, um Gottes wi l len. Oder siehst du noch jemand anderen an Bord?“ Er gestikulierte, wobei er fast das Gleichgewicht verlor. „Ich kann so nicht weiterarbeiten. Wir können nicht we i terhin so tun, als sei niemand sonst hier als man selbst. Ich zumindest kann es nicht. Wir sind Partner, ob dir das gefällt oder nicht, und wir müssen dem ins Auge sehen, oder wir gehen unter. Aber so geht es nicht weiter.“
„Ich weiß“, sagte sie, fast unhörbar. Der erhitzte Na h rungsbehälter sprang heraus, und sie schrak zurück.
„Willst du es zum Scheitern bringen? Ist es dir egal, ob wir es schaffen oder nicht?“
„Ich weiß es nicht.“
„Was?“ Fordernd, nicht fragend.
Sie biß auf ihre plötzlich zitternden Lippen und hielt Gesicht und Körper aufrecht gegen seinen Ansturm. „Nein, es ist mir
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