Kopernikus 6
Fußstützen des Sattels stemmte. Goth sah noch schlimmer aus als ich. Er war etwas jünger und für gewöhnlich energisch und fröhlich. Aber nicht in dieser Nacht.
Wir hätten miteinander reden, den Schmerz teilen sollen. Ich glaube, das war uns allen klar. Aber es ging nicht. Unsere eigene, ganz besondere Vertrautheit machte uns unbeholfen. Irgendwann einmal hatte jeder von uns einen Punkt erreicht, wo er reden mußte, wenn er nicht sterben wollte, sogar Heynith, sogar Ren. Und so hatten wir alle einmal geredet und zugehört, jeder von uns früher oder später in der einen oder anderen Rolle. Jeder von uns hatte seine Ängste, seine Träume und seine geheimen Erinnerungen über die anderen ausgegossen, bis wir einander allzu gut kannten. Es machte uns Angst. Jeder von uns hatte Angst, zuviel offenbart, zu viele Schranken niedergerissen zu haben. Wir hatten Angst vor der Verwundbarkeit, vor dem Messer, das sich die weichste Stelle des Bauches sucht. Wir alle trugen schon unsere Narben mit uns herum, und wir waren doppelt zurückhaltend. Und wir bereuten immer mehr, daß andere uns so hilflos, so verwundbar gesehen hatten. So richteten wir die Mauern wieder auf, massiver als zuvor. Und jetzt, da wir noch einmal ein Gespräch brauchten, konnten wir nichts mehr sagen. Wir waren einander zu nahe gekommen, um eine weitere Vertrautheit zu riskieren.
Visionen kehrten zurück, absinkend und wieder anschwellend, und überlagerten die Dunkelheit.
Das brodelnde Magma, wie es seinen heißen, nach faulen Eiern stinkenden Atem hervorspeit.
Der Kadett, sein Gesicht unmenschlich im Todeskrampf, das Blut läuft in Strömen über seine zerschmetterte Stirn, füllt eine Augenhöhle, blubbert um seine Nasenlöcher, schäumt auf seinen Lippen, und seine Lippen spannen sich, als der Kopf vor und zurück zuckt und auf die Erde schlägt, und werden dann schlaff, der Körper sackt zu Boden, der Mund klappt auf, Blut und Schleim strömten über die grabsteinhaften Zähne, rinnen über Kinn und Hals und durchtränken den Stoff der Tunika. Die Füße trommeln ein letztes Mal auf den Boden und wühlen die Erde klumpenweise auf.
Ich versuchte verzweifelt zu verstehen. Ich hatte nicht zum ersten Mal jemanden getötet, und nie hatte es mich gestört, außer im Schlaf. Ich hatte es mechanisch getan, mit einer vom Haß gestärkten Routine und mit von der Routine gedämpftem Haß. Ich fragte mich, ob diese Nacht jemals enden würde. Ich dachte daran, wie ich vom Berg aus den Morgen hatte aufgehen sehen. Ich glaubte nicht, daß die Nacht zu Ende gehen würde. Und wieder berührte ein großer Gedanke meinen Geist.
Die Stadt, vom Fels verschlungen.
Der Kadett, wie er fiel, mit ausgebreiteten Armen.
Wieso immer der Kadett zusammen mit der Stadt? Hatte das eine mich für das andere sensibel gemacht? Und wenn ja, welches für welches? Ich zögerte.
War vielleicht beides gleich wichtig?
Einer der anderen Truppführer pfiff.
Wir schraken auf, noch angespannter jetzt, als wir es zuvor schon gewesen waren. Der Pfiff ertönte noch einmal, ein zwitschernder Laut, der auf der Stille schwamm wie Öl auf dem Wasser. Jemand kam heran. Nach einer Weile hörten wir im Unterholz des Berghanges ein Rascheln und Knacken, das sich näherte. Wer immer das sein mochte, er gab sich keine Mühe, leise zu sein. Im Gegenteil, er schien blindlings voranzustürmen und unter lautem Krachen durch das Dickicht zu brechen. Goth und ich wandten uns dem Geräusch zu, nahmen unsere Pistolen hoch und entsicherten sie. Das war Instinkt. Ich fragte mich, wer vom Berg herunter auf uns zukommen konnte. Das war Vernunft. Heynith verrenkte sich, um die gegenüberliegende Richtung zu decken, und stützte seine Waffe auf den Rand des Sattels. Das war Vorsicht. Der Störenfried passierte unsere Position in etwa zwei Metern Entfernung, verdeckt von den Büschen. Ein paar Schritte weiter unten, oberhalb eines Geröllhanges, der sich ins Tal hinabzog, gab es eine offene Stelle. Wir beobachteten sie aufmerksam. Das Gebüsch am Rande der Lichtung schwankte, teilte sich. Eine Gestalt stolperte ins Licht der Sterne.
Es war ein Null.
Goth atmete tief ein und ließ Luft zischend zwischen seinen Zähnen herausströmen. Heynith zeigte keine Reaktion, aber ich konnte mir vorstellen, wie seine Augen hinter den dicken Linsen schmal wurden. Mein Kopf war etwa drei Herzschläge lang völlig leer. Dann, überrascht: ein Null! Ich riß den Lauf meiner Waffe hoch. Dann, verständnislos: ein Null? Ich
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