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Kopf in der Schlinge

Kopf in der Schlinge

Titel: Kopf in der Schlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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warten, und so hakte ich nach. »Sie können ruhig offen sprechen. Ich habe alles schon gehört. Kein Mensch mag Selma.«
    Vicky lächelte. »Wir haben uns getroffen, wenn wir mußten. Manchmal konnten wir ihr nicht aus dem Weg gehen, also haben wir das Beste daraus gemacht. Rafer wollte keine Szene, und ich natürlich auch nicht. Ich schwöre bei Gott, einmal hat sie zu mir gesagt — ich zitiere wörtlich — >ich hätte Sie ja eingeladen, aber ich dachte, Sie würden sich bei Ihren eigenen Leuten wohler fühlen<. Ich mußte mir wirklich auf die Zunge beißen. Am liebsten hätte ich gesagt: Jedenfalls möchte ich meine Freizeit nicht mit so einem weißen Pack wie dir verbringen^ Und um alles noch komplizierter zu machen, ist unsere Tochter Barrett mit ihrem Sohn gegangen.«
    »Selma war sicher begeistert.«
    »Sie konnte kaum etwas dagegen einwenden. Ständig hat sie ein derartiges Theater darum gemacht, wie vorurteilsfrei sie sei. So ein Witz! Wenn es nicht so erbärmlich wäre, hätte ich mich kaputtgelacht. Diese Frau besitzt weder nennenswerte Bildung noch Intelligenz. Rafer und ich haben beide an der U.C.L.A. studiert. Er hat einen Abschluß in Kriminologie — das war, bevor er sich hier im Sheriffbüro beworben hat. Ich habe eine abgeschlossene Ausbildung in Krankenpflege und bin außerdem diplomierte Krankenschwester.«
    »Wußte Selma, daß die beiden sich trafen?«
    »Na klar. Sie sind jahrelang fest miteinander gegangen. Tom war hingerissen von Barrett. Soweit ich weiß, fand er, daß sie einen guten Einfluß auf Brant hatte.«
    »Hat Brant ein Problem?«
    »Eigentlich ist er ein anständiger Kerl. Er war nur damals verkorkst wie viele Jugendliche seines Alters. Ich glaube zwar nicht, daß er je Drogen genommen hat, aber er hat ziemlich viel getrunken und bei jeder Gelegenheit rebelliert.«
    »Warum haben sich die beiden getrennt?«
    »Das müßten Sie Barrett fragen. Ich mische mich nicht gern in ihre Angelegenheiten ein. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, würde ich sagen, daß Brant für jemanden wie Barrett zu bedürftig und zu abhängig war. Er neigte dazu, Trübsal zu blasen und zu klammern. Natürlich ist das Jahre her. Damals war er zwanzig. Sie hatte gerade die High-School abgeschlossen und wollte nicht gleich eine ernste Beziehung eingehen.«
    Ihre Ausführungen wurden unterbrochen, als der Arzt hereinkam. Dr. Price war Ende Zwanzig, mager und jungenhaft, hatte leuchtendblaue Augen, große Ohren, dunkles, kastanienbraunes Haar und einen blassen Teint mit Sommersprossen. Ich sah noch den Abdruck auf seiner Wange, wo er sein Kissen im Schlaf zusammengeknüllt hatte. Ich stellte mir vor, daß das gesamte Ambulanzpersonal irgendwo auf kleinen Pritschen schlummerte. Er trug einen grünen OP-Anzug und darüber einen weißen Kittel, in dessen Brusttasche das Stethoskop zusammengerollt lag wie eine zahme Schlange. Ich fragte mich, warum er in einem so kleinen Krankenhaus gelandet war. Ich hoffte, nicht deshalb, weil er sein Medizinstudium als einer der Schlechtesten abgeschlossen hatte. Er warf einen Blick auf meine Finger und sagte: »O Mann! Wahnsinn!« Seine Begeisterung gefiel mir.
    Wir unterhielten uns über meinen Angreifer und das, was er angerichtet hatte. Der Arzt musterte mein Kinn. »Der muß Ihnen ganz schön eine gelangt haben«, sagte er.
    »Allerdings. Das hatte ich ganz vergessen. Wie sieht es denn aus?«
    »Als hätten Sie an der falschen Stelle Lidschatten aufgetragen. Haben Sie noch weitere Schürfwunden oder Kontusionen? Entschuldigung«, fuhr er fort, »ich meine, kleine Verletzungen irgendwo am Körper.«
    »Er hat mich zweimal in die Rippen getreten.«
    »Schauen wir mal nach«, sagte er und zog mir das Hemd hoch.
    Mein Brustkorb hatte sich auf der rechten Seite ziemlich schnell violett verfärbt. Der Arzt hörte mir die Lungen ab, um sich zu vergewissern, daß durch den Stoß keine gebrochene Rippe eingedrungen war. Er tastete meinen rechten Arm ab, Handgelenk, Hand und Finger und gab mir dann einen Schnellkurs über Gelenke, Bänder, Sehnen und was genau passiert, wenn jemand sie auseinanderzerrt. Dann trotteten wir in den Nebenraum, wo mir eine zerzauste Röntgenassistentin Brustkorb und Hand röntgte. Ich kehrte zur Untersuchungsliege zurück und legte mich wieder hin. Ich fühlte mich reichlich durchgeschüttelt, und der Raum begann sich um mich zu drehen.
    Als der Film entwickelt war, bat mich der Arzt auf den Flur hinaus, wo er die einzelnen Aufnahmen vor die

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