Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
hier?«
    »Deine Mutter hat gesagt, mit der Treppe sei auch etwas nicht in Ordnung. Knarrt sonst noch was im Haus?«
    Ich steige über sie und laufe weiter.
    »Was für eine Hektik!«, höre ich sie hinter mir sagen, als ich die Tür zum Schlafzimmer öffne.
    »Mutter hat sich übergeben«, verkündet Jacob aus dem Doppelbett. Er sitzt am Kopfende und spielt wie erwartet mit seinem Nintendo. Stundenlang kann er sich damit beschäftigen. Mutter hält den Kopf über die Bettkante, darunter steht ein Eimer.
    »Ich bin okay«, sagt sie. »Ich stehe gleich auf.«
    »Bleib ruhig liegen«, antworte ich und öffne ein Fenster, damit der Geruch abziehen kann. »Wir müssen alle manchmal länger schlafen.« Jetzt habe ich’s ihr zurückgegeben.
    »Kommst du mit in den Garten?«, wende ich mich an Jacob. »Anders will uns herumführen.«
    Ohne ein Wort klettert er aus dem Bett. Vorsichtig steige ich an der Treppe über Frau Larsen. Jacob versucht es auch, doch seine Beine sind zu kurz. Schließlich drückt er sich an ihr vorbei. Aus irgendeinem Grund holt er die Taschenlampe aus seinem Zimmer; eigenartig, es ist doch helllichter Tag. Aber ich komme nicht dazu, ihn zu fragen, denn schon läuft er an mir vorbei in den Garten, wo Anders auf uns wartet. Ich ziehe meine roten Gummistiefel an und folge den beiden.
    Anders führt uns zwischen Büsche und Bäume, immer weiter weg vom Weg, dorthin, wo das Unterholz am dichtesten ist. Wir kommen zu dem umgestürzten Baumstamm, dereinem Krokodil oder einem Flugsaurier ähnelt, und gehen tiefer in den Wald, der hinter dem Garten liegt.
    Für Jacob ist es eine gefährliche Expedition in einen entlegenen Dschungel, in dem bisher kein Weißer gewesen ist. Deshalb müssen wir auf Eingeborene achten. Doch Anders behauptet, er sei ein heimlicher Freund der Wilden. Ja, eigentlich ist er sogar mit ihnen entfernt verwandt, sehr entfernt zwar, aber das ist eine längere Geschichte, die er uns ein andermal erzählen will.
    »Wie sehen sie aus?«, will Jacob wissen. »Haben sie Köpfe?«
    »Ich habe versprochen, nichts darüber zu erzählen«, erwidert Anders und führt uns eine Böschung hinauf. Wir kommen zu der Höhle, die noch größer ist als die erste. Jacob kriecht sofort hinein, Anders und ich folgen. Wenn wir eng nebeneinandersitzen, haben alle Platz. Jacob sitzt in der Mitte und schaut Anders geradezu liebevoll an, als er fragt: »Du fährst nicht gleich wieder in die Stadt, oder? Dort gibt’s keine Gärten.«
    »Aber so viele andere Dinge«, sage ich.
    »Ich hatte tatsächlich mal einen Job in der Stadt«, erzählt Anders. »Bei einem Gärtner. Ich sollte Unkraut jäten.«
    »In einem Park?«, fragt Jacob nach.
    »Nein, auf einem Parkplatz zwischen ein paar Wohnblocks.«
    »Man braucht doch für einen Parkplatz keinen Gärtner «, wende ich ein.
    »Dachte ich auch. Aber der Gärtner zeigte mir ein paar Ritzen im Asphalt, aus denen Unkraut wuchs. Gras, Wegerich und Butterblumen, vielleicht auch noch ein paar andere Sachen. Das sieht nicht ordentlich aus, sagte er. Glaubst du, du schaffst das? Ich nickte und wollte mein Bestes tun. Er gabmir eine Hacke, klopfte mir auf die Schulter und ging. Ich fing sofort an und habe mich wirklich angestrengt, Tag und Nacht, aber es war schwierig. Es erforderte mein ganzes Können. Als der Gärtner zurückkam, war ich gerade fertig geworden. Total erschöpft und stolz zeigte ich ihm das Resultat. Aber anstatt mich zu loben, wurde er böse, denn wisst ihr was? Ich hatte die Aufgabe missverstanden.«
    »Was hast du gemacht?«, fragte Jacob.
    »Ich habe das Unkraut wachsen und gedeihen lassen. Aber eigentlich hätte ich es weghacken sollen.«
    »Das hättest du dir ja wohl denken können«, sage ich.
    »Ich fand, die Triebe in den Asphaltritzen sahen so vernachlässigt aus. Ich bekam Mitleid und zog sie nach allen Regeln der Kunst groß; ich redete mit ihnen, ich schenkte ihnen Aufmerksamkeit. Das ist das Allerwichtigste bei allem, was wachsen soll, die Aufmerksamkeit. Ich lag auf dem Bauch und erzählte den Grashalmen meine intimsten Geheimnisse. Und es hat sich gelohnt. Es wuchs und gedieh und breitete sich dermaßen aus, dass ich mich selbst erschrak. Irgendwann versuchte ich, es mit der Hacke aufzuhalten, aber da war es schon zu spät: Überall platzte der Asphalt auf und überall wuchs Unkraut und Gras.«
    Ich kann nicht anders, ich muss lachen, denn natürlich habe ich das Ende längst geahnt, aber es ist eine gute Geschichte. Jacob hingegen nimmt sie

Weitere Kostenlose Bücher