Kopfloser Sommer - Roman
man sie hin und wieder hören kann, gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Ich fühle mich hier wohler als zu Hause bei Mutter. Ich bin sicher, dass dieses Haus nachts nicht ›arbeitet‹. Die Dielen knarren nur, wenn man drauftritt, sie müssen nicht geölt werden, und nachts steht auch kein fremder weinender Mann im Garten. Außerdem könnte er sich hier auch nicht so verstecken wie in unserem zugewucherten Garten.
Ich setze Kaffeewasser auf. Als das Wasser kocht, lasse ich es einen Moment abdampfen, bevor ich es in den Filter gieße. Mutter behauptet, man dürfe kein kochendes Wasser auf den Kaffee gießen, weil die Bohnen sonst krebserregend sind. Vater glaubt nicht daran, aber schaden kann es ja nicht, außerdem ist Vater im Hof. Ich lasse den Kaffee ordentlich ziehen, er soll stärker sein als der für Mutter. Und da ich schon mal angefangen habe, wasche ich auch noch ab und wische über den Tisch. Es ist nicht so ordentlich wie zu Hause in unserer Küche, aber sollte ich hier einziehen, werde ich ihm bei der Hausarbeit helfen. Außerdem werde ich richtig nett zu Birthe sein, ganz bestimmt. Wenn sie zu Besuch kommt, werde ich bei Amalie oder einer anderen Freundin übernachten, damit Vater und sie ein wenig Zeit füreinander haben. Das Wichtigste ist, dass Vater keinerlei Probleme mit mir hat.
Als Jacob und er wieder in die Wohnung kommen, stehen Kaffee und Saft bereit. Doch die Stimmung hat sich verändert. Vater wirkt abwesend und nachdenklich. Und Jacob steht dasschlechte Gewissen geradezu auf die Stirn geschrieben, er will mir auch nicht in die Augen sehen. Unten im Hof muss etwas vorgefallen sein, und ich kann es mir lebhaft vorstellen: Vater hat Jacob über Anders ausgefragt, und Jacob hat natürlich den Mund nicht halten können.
Um die Stimmung zu heben, schlage ich vor, dass Vater uns etwas auf der Gitarre vorspielt. Früher, als wir noch zusammenwohnten, hat er es gern getan. Es hatte immer so etwas Verbindendes. Aber er hält nicht viel davon.
»Ich weiß gar nicht, ob ich’s noch kann«, sagt er.
»Natürlich kannst du, und ich filme dich dabei.« Ich schalte mein Handy auf den Kameramodus. »Dann kann ich es mir zu Hause ansehen, wenn ich dich vermisse.«
Das gibt den Ausschlag. Die Idee gefällt ihm, und außerdem ist er schon immer gern aufgetreten. Erstaunlich schnell findet er eine Mappe mit Noten und stellt den Notenständer auf.
»Aber du darfst es niemandem zeigen. Mutter vielleicht, aber niemandem sonst.«
Ich verspreche es. Ich glaube, er mag den Gedanken, dass Mutter ihn spielen hört. Dann sieht sie, dass wir es uns durchaus gemütlich machen können. Ich drücke auf Aufnahme. Mit etwas zu viel Schwung nimmt er die Gitarre von der Wand ‒ er trifft Jacob in den Nacken. Natürlich entschuldigt er sich und fragt, ob es wehgetan habe. Jacob lächelt tapfer und schüttelt den Kopf.
»Das löschst du aber«, sagt Vater. Natürlich, ich lösche es sofort, und wir fangen noch einmal von vorne an.
Vater setzt sich auf einen Stuhl und beginnt zu spielen; konzentriert schaut er auf die Noten. Ich filme und drehe die Kamera ein wenig, damit Jacob auch im Bild ist. Zu spät bemerke ich, dass er sich stöhnend den Nacken reibt. Es siehtziemlich seltsam aus, fast so, als gefiele ihm die Musik nicht. Vater sieht es nicht, er singt, bis Jacob laut aufschluchzt.
»Was ist denn nun schon wieder?«, knurrt Vater und bricht ab, doch dann bemerkt er, dass ich noch immer aufnehme. Hastig beginnt er Jacob zu trösten.
»Ist wahrscheinlich besser, wenn ich das auch lösche«, sage ich. Vater sieht mir über die Schulter und ist erleichtert – wenn Mutter die Aufnahmen sähe, könnte sie diese gegen ihn verwenden.
»Versuchen wir’s noch mal?«, frage ich, als Jacob endlich aufgehört hat zu weinen. Doch Vater hat keine Lust mehr und hängt die Gitarre an ihren Platz zurück. Stattdessen fragt er, ob wir ein Eis wollen. Er hat sogar Jacobs Lieblingssorte gekauft. Allerdings will Jacob kein Eis ‒ so etwas kommt ausgesprochen selten vor. Er scheint wirklich vergrätzt zu sein. Aber Vater ist ebenso sauer, und das ist richtig ärgerlich. Ich ermahne Jacob, sich zusammenzureißen und sein Eis zu essen. Dadurch wird es nur noch schlimmer, jetzt will er plötzlich heim zu Mutter. Vater macht ein grimmiges Gesicht.
Ich nehme Jacob bei der Hand und gehe mit ihm in unser Zimmer. Wir setzen uns auf den Boden, ich rede freundlich auf ihn ein und spiele mit ihm. Wir bauen ein Haus aus Lego, und
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