Kopfloser Sommer - Roman
her.
Wir backen. Es ist wirklich gemütlich, und ausnahmsweise entspanne ich mich in ihrer Gesellschaft. Vermutlich weiß sie, dass Vater mich angerufen hat, und sicherlich ist ihr auch klar, was er von mir wollte. Aber ich spreche das Thema nichtan – zu ihrer großen Erleichterung, das spüre ich. Es läuft so, wie sie es entschieden hat, Vater wird uns erst am nächsten Wochenende holen. Irgendwann umarmen wir uns und schließen Frieden. Mutter vergießt eine Träne und meint, wir hätten uns in der letzten Zeit so auseinandergelebt. Aber ab jetzt wird alles anders, versprechen wir uns. Dass ich so gute Laune habe, liegt nur daran, dass ich Anders vergessen habe, davon ist Mutter überzeugt. Sie freut sich darüber.
»Du bist einfach zu jung für so etwas«, sagt sie. Ich gebe ihr recht, ich bin viel zu jung. Und hätte am liebsten hinzugefügt, dass sie zu alt ist; aber ich beiße mir auf die Zunge und halte den Mund.
Gegen Mitternacht klopft Anders an mein Fenster, diesmal kommt er allerdings nicht herein. Er bittet mich herauszukommen. Er will mir etwas zeigen. Er hat sich schick angezogen und klingt ganz feierlich.
»Zeigst du mir, was im Brunnen ist?«
Als Antwort nimmt er mich bei der Hand und führt mich zum Brunnen. Rasch entfernt er die Bretter und lässt sich am Seil hinab. Unten am Boden ruft er, ich solle nachkommen. Ich klammere mich ans Seil und stütze mich mit den Beinen an der Wand ab. Schließlich bin ich auch unten. Es ist dunkel, aber wo ist Anders? Es ist eine Falle, ich werde hier sterben, schießt es mir durch den Kopf, als mich eine Lampe blendet. Anders steht mit einer Sturmlaterne in einer Maueröffnung und lächelt mich an. Beruhigend legt er mir eine Hand auf die Schulter.
»Komm, ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich folge ihm durch einen langen schmalen Gang mit Backsteinwänden. Die Decke besteht aus Brettern, alles sieht ziemlich primitiv aus. Hier und da rieselt Putz auf meine Haareund meinen Pyjama. Wir können nicht immer aufrecht gehen, an einer Stelle müssen wir auf die Knie und kriechen. Dann teilt sich der Gang, kurz darauf noch einmal. Wie lang ist er? Die Luft wird schlechter, die Petroleumlampe flackert. Ich habe Angst, dass die Decke über mir einstürzt, aber ich habe noch größere Angst, mich zu verlaufen, wenn ich umkehre. Also halte ich mich dicht hinter Anders.
Jetzt gibt es wieder mehr Platz, wir kommen zu einer Tür, die Anders öffnet.
Hinter der Tür ist ein Raum, der wie ein richtiger Keller aussieht. Es ist nicht mehr so stickig, die Luft lässt sich besser atmen. Ich erwarte ein Liebesnest für zwei, habe aber das Gefühl, im Phantom der Oper mitzuspielen. Nur ohne Ungeheuer. Und ich werde gewaltig enttäuscht. Denn ich komme nicht in ein Liebesnest, sondern in ein kleines Zimmer mit Dingen, die offensichtlich seinen Eltern gehörten. An der Wand hängen Bilder von ihnen, unter den Fotos brennen Kerzen. Als hätte er ihnen kleine Altäre errichtet. Die Atmosphäre erinnert an eine Grabkammer. Mitten im Raum steht ein Tisch, darauf ein Toaster, ein Locher und eine Zigarrenkiste; verschiedene Kleinigkeiten, die er vorsichtig in die Hand nimmt und mir zeigt. Die Sachen sind nicht mehr in Gebrauch, doch er behandelt sie mit großer Vorsicht, ein bisschen wie Reliquien. Mit bebender Stimme beschreibt er, wo in seinem Elternhaus sie gestanden haben. Die ehemaligen Mieter des Hauses haben diese Gegenstände weggeworfen, sie hielten sie für wertlos. Und er hat sie aus dem Müllcontainer geholt und hier in den Brunnen gebracht. Ihm stehen die Tränen in den Augen, als er mir diese Geschichte erzählt – mir hingegen gefällt das alles überhaupt nicht. Für ihn haben diese Dinge einen großen emotionalen Wert, sagt er, und wo sollte er sie sonst aufbewahren? Er muss sich an seine Eltern erinnern können,aber das Haus, wo diese Dinge hingehören, hat er ja nicht mehr. Deshalb hat er diesen Raum unter der Erde zu ihrem Gedenken eingerichtet.
»Ein Gedenkzimmer?« Ich bin mir nicht ganz sicher, was er damit meint.
»Ein Ort, an dem man sich an einen Verstorbenen erinnert, oder wie hier, an ein Ehepaar, und wo man die Dinge sieht, mit denen sie sich täglich umgeben haben, als sie noch lebten. Das ist doch schön?«
Finde ich eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, kommt es mir ziemlich morbid vor. Aber schließlich hat er seine Eltern auf sehr unglückliche und dramatische Weise verloren, das erklärt einiges.
»Du musst sie wirklich gemocht
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