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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Klick.
    Gentry hob die Ruger, während Marvin durchlud und noch einmal feuerte. Wieder traf der Schlagbolzen ins Leere.
    Gentry hatte den Abzug der Ruger gerade so fest betätigt, daß der Hahn gespannt wurde; jetzt drückte er den Daumen darauf und ließ ihn wieder sinken. »Scheiße«, sag t e er leise und machte einen Sprung vorwärts, während die Parodie von Marvin Gayle die Schrotflinte fallen ließ und aus dem Tunneleingang gekrochen kam.
    Der Junge war kleiner und leichter als Rob Gentry, aber auch jünger und schneller und von dämonischer Energie beseelt. Gentry wußte nicht, was erforderlich sein würde, ihn in einem sozusagen fairen Kampf zu schlagen; er wollte es auch nicht herausfinden. Er stürzte in die Ecke, während Marvin sich noch auf die Füße rappelte, und schwang die Ruger in einem heftigen Bogen, so daß er den Jugendlichen mit dem langen Lauf an der Schläfe traf. Marvin sackte in sich zusammen, rollte einmal ab und blieb reglos liegen.
    Gentry kauerte sich neben ihn, tastete nach dem Puls, sah auf und erblickte das weiße Ungeheuer, das unter der Vorratskammertür stand. Gentry feuerte zweimal; der erste Schuß traf den Stein, wo die Erscheinung eine Sekunde vorher noch gestanden hatte, der zweite durchbohrte die Vorratskammertür. Schwere Schritte erklangen in der Halle. Von draußen ertönte der gedämpfte Widerhall einer Explosion.
    »Natalie!« rief Gentry. Er wartete einen Moment, rief noch einmal.
    »Hier, Rob! Sei vorsichtig, er ist ...« Natalies Stimme wurde unterbrochen. Es hörte sich an, als befände sie sich gerade am anderen Ende des Flurs.
    Gentry stand auf, schob den Tisch beiseite und lief in Richtung ihrer Stimme.
    Natalie war, so hoch sie konnte, die Treppe hinaufgekrochen und hoffte, sie würde Vincent wenigstens ins Gesicht treten können, als sie bemerkte, daß sie nicht allein war. Sie zwang sich, nicht mehr über die Schulter zu sehen, sondern nach oben.
    Melanie Fuller stand oben auf der Treppe, drei Schritte von Natalies Kopf entfernt. Sie trug ein langes Flanellnachthemd, einen billigen rosa Morgenmantel und flauschige rosa Hausschuhe. Das Kerzenlicht des Kinderzimmers ließ ein unvorstellbar altes Gesicht erkennen, Runzeln, die zu Falten wurden, welche ihrerseits in vorstehende Sehnen ausliefen, und einen Schädel, der bemüht schien, sich der Maske toter Haut zu entledigen. Der stachelige Strahlenkranz des blauen Haars wirkte viel zu dünn, an manchen Stellen sah man die fleckige Kopfhaut, als wäre ihr das Haar durch Chemotherapie oder irgendwelche Drogen büschelweise ausgefallen. Melanie Fullers linkes Auge war geschlossen und grotesk ge schwollen, vom rechten konnte man nur den gelblichen Augapfel sehen. Sie lächelte, und Natalie konnte sehen, daß ihr oberes Gebiß lose vom Zahnfleisch hing. Im Kerzenlicht wirkte ihre Zunge so rot wie getrocknetes Blut.
    »Schämen Sie sich, meine Liebe«, sagte Melanie Fuller. »Bedecken Sie Ihre Blöße.«
    Natalie erschauerte und drückte die Fetzen ihrer Bluse an die Brüste. Die Stimme der alten Frau bestand nur noch aus einem kehligen Rasseln des Todes; ihr Atem verseuchte die Treppe mit Verwesungsgestank. Natalie versuchte, auf sie zu zu kriechen, damit sie die Hände um diesen sehnigen Hals legen konnte.
    »Natalie!« Robs Stimme.
    Sie klammerte sich an den ausgetretenen Holzstufen fest und antwortete ihm. Wo steckte Vincent? Sie wollte Rob gerade warnen, als Melanie Fuller drei Stufen herunterkam und mit einem rosa Hausschuh ihre Schulter berührte. »Still, Teuerste.«
    Gentry kam mit erhobener Pistole den Flur entlang. Er sah zu Natalie auf, seine Augen wurden groß. »Natalie. Großer Gott.«
    »Rob!« schluchzte sie und nutzte jede Sekunde, in der ihr Verstand noch ihr gehörte. »Sei vorsichtig. Das weiße Monster ist hier in der Nähe .«
    »Still, Teuerste«, sagte Melanie Fuller. Die alte Frau legte den Kopf schief und betrachtete Gentry mit dem stechenden, durchdringenden Blick einer Wahnsinnigen. »Ich weiß, wer Sie sind«, flüsterte sie und erzeugte durch das lose Gebiß mit jedem Wort einen Speichelschauer, »Aber ich hatte nicht für Sie gestimmt.«
    Gentry sah hinter sich den Flur entlang, zum Salon und dem vorderen Zimmer. Er trat auf die Treppe, drückte den Rücken an die Wand und hob den Revolver, bis er auf Melanie Fullers Brust gerichtet war.
    Die alte Frau schüttelte langsam den Kopf.
    Der Revolver wurde tiefer gesenkt, als würde er von einer mächtigen magnetischen Kraft gezogen,

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