Kramp, Ralf (Hrsg)
in gefährliche Höhen. Er hat nicht gewusst, dass sein Herz so schnell schlagen kann. Der Schleier verschwunden, das Kleid zerrupft, in der Hand eine Flasche, der Blick ganz gläsern, der Stand nicht fest, so schwankt die verschwundene Braut vor ihm hin und her. Felix versucht sich so zu stellen, dass Jenny die tote Tamara hinter ihm nicht sehen kann. Das Schwanken und der fast leere Wodka Gorbatschow holen seinen Herzschlag langsam in den Normalbereich zurück. Die Braut wird sich an nichts erinnern, sie ist total besoffen. »Jenny, im Gemeindesaal warten sie alle auf dich. Was treibst du dich denn hier im Steinbruch rum?«, fragt er und es gelingt ihm sogar, seiner Stimme einen lockeren Klang zu geben.
»Da können die warten, bis sie schwarz werden. Für mich ist die Hochzeit gelaufen. Weißt du, ob ich noch irgendwo einen Nachtzug kriege?«
»Nachtzug? In der Eifel doch nicht, da musste schon bis morgen früh warten, bis wieder ein Zug fährt.« Felix zieht seine Jacke aus und legt sie der wankenden Braut auf die Schultern.
»Dann fahr mich nach Köln!« Jenny nimmt einen letzten Schluck aus der Flasche und schleudert sie hinter sich, wo sie auf einem Stein landet und krachend zerbricht. »In Köln gibt es immer Nachtzüge.«
Das klirrende Glas und Jennys Wunsch treiben Felix’ Herzschlag sofort wieder auf hundertachtzig. Die ausgerissene, volltrunkene Braut hat ihm jetzt gerade noch gefehlt. »Jenny! Wenn ich dich so zurückbringe, denken sich doch alle ihren Teil, und mich bucht keiner mehr für eine Hochzeit. Sag mir, wen ich anrufen soll, damit er dich hier abholen kann.« Felix greift nach ihrer Hand und will sie ein Stück von der Leiche wegziehen, aber Jenny sperrt sich.
»Und wohin willst du
sie
mitnehmen?« Sie schiebt Felix in Zeitlupe zur Seite und deutet auf die tote Tamara.
Felix sehnt sich nach einem Loch im Boden, in dem er für immer verschwinden kann. »Ich schwör dir, Jenny, ich war das nicht. Ich hab sie nicht umgebracht.«
»Weiß ich«, hickst Jenny und blickte auf die Leiche. »Bevor sie in Berndorf aufgetaucht ist, war alles gut zwischen dem Robin und mir. Aber die hat ja jeden angebaggert. Und der Robin hat sich nur zu gern anbaggern lassen.«
»Hast du sie etwa …?«, fragt Felix ungläubig und hält Ausschau nach einem Baumstumpf. Die Geschichte wird immer verworrener, und stehend ist er ihr nicht mehr gewachsen. Er muss sich dringend setzen, aber er findet nichts. Erschöpft lehnt er sich an einen Baum.
»Nur in Gedanken«, nuschelt Jenny. »Und ich hätt sie erschlagen. Erwürgen hätt ich nicht geschafft, dafür fehlt mir die Kraft, die hätt mich weggeschleudert.«
Stimmt. Tamara war mindestens zehn Zentimeter größer und fünfzehn Kilo schwerer als die zierliche Jenny. »Aber wer dann?«
»Fährste mich nach Köln, dann sag ich es dir.«
»War’s dein Mann?«, will Felix wissen, aber Jenny zuckt nur mit den Schultern. Felix rutscht jetzt den Baumstamm hinunter auf den Boden, Auge in Auge mit der toten Tamara. Was soll er bloß tun? Jenny nach Köln fahren? Wieso nicht? Und wenn er dabei tatsächlich erfährt, wer Tamara erdrosselt hat, umso besser. Und wenn sie blufft? Auch egal. Aber was ist mit Tamara? Er will sie nicht mehr länger im Wald liegen lassen.
»Kein Problem. Wir nehmen sie mit!«, nuschelt Jenny und hickst.
Wahnsinn, der reine Wahnsinn ist das, weiß Felix, aber was bleibt ihm übrig? Erst schafft er die schwankende Jenny ins Auto und schnallt sie auf dem Beifahrersitz fest, dann schleppt er die tote Tamara bis zum Auto, räumt hinten das Keyboard zur Seite und zieht sie hinein. Sie ist zu groß, und er hört ihre Knochen brechen, als er ihr die Beine anwinkelt, damit er den Kofferraum zubekommt. Schwitzend und keuchend lehnt er danach an seinem Auto. Alles was er hat, sogar sein Keyboard und sein geliebtes Häuschen in Nonnenbach, würde er verhökern, wenn er dafür die letzten beiden Tage ungeschehen machen könnte. Aber weder irdische noch höhere Mächte nehmen sein Angebot an, und so setzt er sich resigniert hinter das Steuer und startet den Wagen.
Jenny neben ihm schläft sofort ein und schnarcht, wie nur Besoffene schnarchen können. Erst einmal lässt er sie schlafen, doch bevor er sie in Köln in den Nachtzug setzt, muss sie ihm Rede und Antwort stehen. Er lenkt den Wagen auf eine der vielen einsamen Landstraßen, die die Eifel durchqueren. Er kennt sie alle, sie sind sein Zuhause, auch ihretwegen will er nicht aus der Eifel weg, weil er
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