Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
gar nichts. Der hat sich sogar verschlechtert. Woher ihr Schwindel kommt, weiß sie bis heute nicht. Ihre Verunsicherung ist gestiegen und ihre Angst vor klinischen Eingriffen auch. Vom Hausarzt und Neurologen wird sie mit den »notwendigen Medikamenten« versorgt. Medikamente für was?
Mich interessierte der Fall strukturell. Deshalb bat ich verschiedene Mediziner um eine Einschätzung der Vorgänge, die ich oben dokumentiert habe. Egal mit welchem Arzt ich zu verstehen versuchte, weshalb Frau R. bis zum heutigen Tag – es sind inzwischen elf Monate ins Land gegangen – mit einer völlig ungeklärten Diagnose durch die Welt geht, die Gespräche bleiben stets in der Systemdiskussion hängen. Der Hausarzt überweist an den zuständigen Facharzt. Dieser überweist sie weiter. Dann kommt sie in die Klinik. Weshalb musste sie darauf ein paar Monate warten? Bedurfte es eines eher ruhigen Wochenendes, um sie dieser Tortur zu unterziehen? Richtig ist: Die Klinik bekommt Geld für Behandlung und wird belohnt für kurze Liegezeiten – das ist das System der Fallpauschalen. Und die Bettenauslastung muss mit lukrativen »Fällen« gesichert sein. Das war sie wohl, Frau R. – halbwegs lukrativ im Sinne des bestehenden Systems.
In der Klinik, sagen mir meine medizinischen Fachleute, ist garantiert etwas schiefgelaufen. Alle angefragten Ärzte bestätigen mir unabhängig voneinander, nach einer Lumbaldrainage werde immer bis zu 24 Stunden strenge Bettruhe angeordnet. Niemand machte Frau R. auf diese Notwendigkeit aufmerksam. Alle Klinikmitarbeiter haben gesehen, dass sie sich nach dem Eingriff wie eine Unbehandelte bewegt. Bei Nachfragen in der Klinik stoße ich auf eine aggressive Assistenzärztin. Ihre Erklärung gipfelt in dem Satz: »Patienten erzählen viel, wenn der Tag lang ist!« Die befragten Pflegekräfte reagieren anders: »Wir sind hoffnungslos unterbesetzt und können uns nicht um alles kümmern!« Frau R. gehört zu der Generation, in der duldende, bescheidene Hinnahme noch ein (fragwürdiges) Erziehungsziel war. Man wehrt sich nicht, fragt nicht nach, lässt geschehen, was aufgetragen wird. Genau hier setzt mein Rat für Patienten ein. Werden Sie mündig! Lassen Sie sich nicht alles gefallen. Fragen Sie nach! Sie finanzieren das System schließlich mit Ihrem eigenen Geld.
Aber haben Sie auch im Blick, dass die Ärzte, Schwestern und Pfleger selbst nur Opfer von Strukturen sind, die sie in den meisten Fällen ablehnen. Umso wichtiger sind das Gespräch und der Schulterschluss zwischen allen unmittelbar vom Umbau unseres Gesundheitswesens betroffenen Menschen. Auf die Dauer wird sich eine Politik nicht durchsetzen lassen, die mehr in die Bilanzen der Konzerne hineinwirtschaftet, als den Menschen zu sehen, was er ist, ein Lebewesen.
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15. Uninteressante Menschen
Ein Fall von Windeln
E nde September 2008 wurde ich hautnah Zeugin einer Entscheidung, die auf das von Politikern immer wieder hochgepriesene Wettbewerbsstärkungsgesetz zurückzuführen ist. Es ging konkret um Windeln. Krankenkassen setzten einmal mehr den Sparhebel an, nun auch bei denjenigen, die aufgrund ihres Krankheitsbildes bestimmte Hilfsmittel benötigen. In diesem Fall traf es die Inkontinenzpatienten. Sie brauchen nun einmal Einlagen, Windeln oder Einwegauflagen für ihr Bett. Die Kassen vergaben nun die Aufträge nach einer Ausschreibung an den billigsten Anbieter dieser Produkte. So weit, so gut. Doch nun folgt – die Wahrheit ist konkret – des Dramas erster Teil.
An einem schönen Augustmorgen 2008 stellt Maria S. ihr Auto vor dem Sanitätshaus ab und legt – wie immer – ihr Rezept auf den Tresen. »Heute soll es ja heiß werden, deshalb komme ich bereits so früh, und das Parken funktioniert am Morgen auch viel besser!« Das Personal des Sanitätshauses und Maria S. kennen sich seit vielen Jahren. Das Schicksal hat der Familie S. einen großen Rucksack verpasst. Alle drei Söhne kamen behindert zur Welt. Sie brauchen wie viele andere von Inkontinenz betroffene Menschen für ihr tägliches Leben aufsaugende Inkontinenzartikel. Aus den Kindern sind längst junge Männer geworden, von denen zwei nun fast selbständig ihr Leben meistern können. Über Jahre war eine gute Versorgung mit den notwendigen Windeln durch Sanitätshaus und Apotheke gesichert.
Deshalb versteht Maria S. überhaupt nicht, weshalb an diesem schönen Sommertag das Sanitätshaus ihr das Verbot ihrer Krankenkasse mitteilt, ihr die notwendige
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