Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Großpackung mit Windeln für ihre Söhne nicht auszuhändigen. »Es hat sich etwas geändert, wir dürfen die Rezepte nicht mehr einlösen. Sie müssen zu Ihrer Krankenkasse und fragen, wie Sie in Zukunft an die Windeln kommen«, erklärt die Verkäuferin des Sanitätshauses. Die Mutter der drei behinderten Söhne ist wie vor den Kopf geschlagen. Sie schaut zur Uhr, und es schießt ihr durch den Kopf: »Wie komme ich bis heute Nachmittag an die notwendigen Windeln? Denn die, die noch vorhanden sind, reichen höchstens bis heute Abend!«
Frau S. ist eine tatkräftige Frau und fackelt nicht lange; sie zieht ihr Handy aus der Handtasche und ruft bei ihrer Krankenkasse an. Dort teilt man ihr mit, dass sie ab sofort das Rezept direkt an den Inkontinenzartikelhersteller nach Berlin schicken müsse. Von dort würde sie dann beliefert werden.
Über viele Jahre waren Hausarzt, Apotheker und Sanitätshaus für die Familie verlässliche Partner, um bei allen anfallenden Zusatzaufgaben wenigstens mit einfachen Lebenssituationen wie Stuhlgang und Harndrang ohne Komplikationen umgehen zu können. Der Alltag muss doch funktionieren! Er funktionierte auch, bis sich im Jahr 2007 im wahrsten Sinne des Wortes politische Klugscheißer des Themas annahmen, über das niemand gerne spricht. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Versicherte wohnortnah über ihre Apotheken und Sanitätshäuser mit Inkontinenzartikeln versorgt.
Die in Berlin gefällten Entscheidungen erreicht wie gesagt im August 2008 Familie S. Die von der Krankenkasse genannte Firma hat ihren Sitz in der Hauptstadt. Doch sie ist weder telefonisch noch per E-Mail zu erreichen. Auf Rückfrage bei der Kasse, wie die Zeit bis zur Lieferung überbrückt werden soll, erhält Frau S. zur Antwort: »Na, dann zahlen Sie halt eben mal selbst!« – »Na, das kann ja heiter werden«, denkt sich Frau S., die nun also auf unbestimmte Zeit bis zur Lieferung den Bedarf an Inkontinenzartikeln aus eigener Tasche finanzieren soll.
Blase und Darm lassen sich nicht nach Liefertermin steuern. Es bleibt Frau S. also überhaupt nichts anderes übrig, als die Haushaltskasse mit Windelkäufen zu belasten. Das Sanitätshaus ist es, das mich auf den Fall aufmerksam macht: »Reden Sie mal mit einer betroffenen Familie«, sagt die Dame. »Die Sache stinkt zum Himmel!« Ich bin skeptisch, recherchiere zunächst etwas im Umfeld. Meine Nachfragen ergeben, dass tatsächlich jede einzelne Krankenkasse ihre Hilfsmittelversorgung ausgeschrieben hat. Man konzentrierte sich dabei auf den Faktor Preis, nach der Devise: billig, billig, billig! Natürlich versicherten alle Kassen, die Lieferanten würden sich daran halten, eine gute Leistung abzuliefern. Ich setze mich also mit der Familie in Verbindung und argumentiere zunächst, dass die Gesetzesregelung zwar eine Umstellung bedeute. Das würde sich aber sicher doch ganz schnell einspielen, oder? Dass mir Frau S. nicht ins Gesicht springt, ist alles. Und so erfahre ich die Details einer anrüchigen Affäre. »Seit Wochen werden wir hingehalten, vertröstet, belogen …«
Bei Familie S. kommt nach drei Wochen (!) die erste Lieferung aus Berlin an. »Ich kann mir nicht vorstellen«, sagt Frau S., die sich sofort an die Strippe gehängt hat, um mich auf den neuesten Stand zu bringen, »dass die Kassen die Qualität der gelieferten Windeln vor Vertragsabschluss auch nur in Augenschein genommen oder gar kontrolliert haben. Was da aus Berlin eingetroffen ist, das ist der reine Dreck!« Ob ich mir die Bescherung einmal ansehen möchte? Die Frau weint am Telefon.
Das veranlasst meinen Mann und mich, umgehend die fünfundsiebzig Kilometer zu Familie S. zu fahren. Aus logistischen und aus Kostengründen hat das Unternehmen gleich einen Monatsbedarf geliefert! Nun macht sich wohl niemand eine konkrete Vorstellung, was drei Personen in vier Wochen benötigen. Ich sehe es. Es handelt sich um eine richtige Palette voll Windeln! Die beauftragte Spedition hat sie auf dem Gehweg vor dem Sechs-Familien-Block abgestellt. Im zweiten Stock des Hauses wohnt Familie S.
Das Problem besteht weniger im Gewicht der einzelnen Kartons. »Sagen Sie mir bitte mal«, ruft mir die verzweifelte Mutter zu, »wie ich das ganze Zeugs in einer 95-m²-Wohnung unterbringen soll, in der fünf Personen leben!« Die Pakete sind wahrhaft voluminös. »Im Winter«, sagt mein Mann sarkastisch, »ist das ideal. Sie müssen die Windeln nur an die Außenwand stapeln, dann haben Sie eine ideale
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