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Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport

Titel: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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Frau Graf nickt: »Ja, das Schild haben die immer noch nicht abgemacht!« – »Sollten die mal besser tun«, meint Frau Müller, »jedes Mal reden die Patienten drüber, wenn sie sich einen abfrieren, weil der MVZ -Bus mal wieder den Termin nicht halten kann.«
    Das frierende Mädchen kann sich einen Hausarzt gar nicht mehr vorstellen: »Und da gab es also wirklich hier auf dem Land einen Arzt, der rund um die Uhr für die Leute da war?« Als sie aus der Großstadt hierherzog, gab es dort schon längst nur noch medizinische Versorgungszentren, angedockt an die Kliniken. »Ja, sogar mehrere«, erzählt die alte Frau Müller: »So ein Hausarzt, der kam sogar ins Haus. Deshalb nannte er sich ja so.« – »Boah, unfassbar!«, staunte die junge Frau. »Was für ein Service! Aber nur bei alten Leuten?« – »Nein, bei jedermann, der so krank war, dass er nicht in die Praxis konnte. Manchmal hatte der für so ’ne junge Mutter wie Sie gleich ein paar gute Ratschläge dabei. »Das glaub ich nicht!« – »Doch, ja, und als ich meine Mutter in den letzten Wochen ihres Lebens pflegte, kam er sogar jeden Tag.« – »Wie«, fragt das Mädchen, »Sie durften Ihre Mutter selber pflegen? Haben Sie ein Zertifikat dazu?« – »Quatsch Zertifikat«, brummte Frau Müller. »Jeder kann einen Kranken pflegen. Und wenn es mal schwierig wurde, hatte der Doktor einen Tipp. Oder er besorgte sogar jemand, der ins Haus kam und bei der Pflege half.« – »Das ging alles?«, staunte das Mädchen. »Ja, damals hatte der Staat noch Geld.« Frau Graf mischte sich in das Gespräch ein: »Darf ich Sie korrigieren. Das alte System funktionierte mit weniger Geld. Das Geld im Gesundheitswesen wurde nicht für Beraterhonorare, absurde Gesundheitsprogramme und Quatsch rausgeschmissen, sondern es wanderte einfach an den
point of health
 – an den Punkt also, wo ein Arzt sich einem Patienten zuwendet, wo eine Schwester einen Kranken pflegt oder wo ein Behinderter einen Rollstuhl braucht.«
    »Wo bleibt nur dieser elende Bus?«, schimpfte Frau Müller. »Wir holen uns noch den Tod! Es ist schon 9.15 Uhr, und wir warten eine geschlagene halbe Stunde.«
    Ein älterer Herr, der hinzugetreten ist, erzählt, wie es damals war. »Der letzte Arzt hier im Dorf hat uns über Jahre gewarnt, dass es so kommen wird. Wir glaubten das nicht so recht. Als er gestreikt hat, sind wir nicht mitgegangen. … Irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich fühle mich mitschuldig, dass es so gekommen ist. Ich kann mich sogar noch daran erinnern, als er in der Schlafanzughose uns nachts um drei aufsuchte, weil es meiner Frau so schlechtging. Er blieb bei ihr sitzen, bis die Spritze wirkte, sprach mit ihr und mit mir, nahm uns unsere Angst. Man hat ihn tatsächlich wegrationalisiert, und wir haben es tatsächlich zugelassen. Und jetzt stehen wir hier, frieren und warten auf den MVZ -Bus.«
    Die junge Frau mit dem Baby hört genau zu: »Ja, hätten Sie mal besser auf die Pauke gehauen. Wir sind die Leidtragenden, dass Ihre Generation kein politisches Bewusstsein hatte. Ich finde es empörend, dass ich mit einem zwei Wochen alten Säugling in der Kälte stehen muss, um den vom Callcenter durchgegebenen Termin einzuhalten.« Der ältere Herr sagt nichts. Die junge Frau meint: »Zu Hause sitzt mein Opa und schimpft auf die Verhältnisse. Ich kann es nicht mehr hören. Manchmal habe ich kein Mitleid mit ihm. Er müsste längst zum Arzt, aber er hat so wenig Rente, und die Zuzahlungen sind so hoch, dass er sein offenes Bein mit Kamille auswäscht und hofft, dass es heilt. Hätte er mal den Mund aufgemacht, als der große Umbau stattfand!«
    Frau Müller steht von ihrer Gehhilfe auf, und erst jetzt sehen die anderen, wie sehr sie das Gespräch innerlich mitnimmt: »Sie haben leicht reden. Ich weiß nicht, ob Sie aufgestanden wären. Der Mut wächst mit dem Abstand zu den Ereignissen. Wenn man bis über beide Ohren drinsteckt, wenn einen die Politiker belügen und die Werbung und die Zeitungen, dann ist es schwer, Widerstand zu leisten.« – »Warum sind Sie hier?«, fragt die junge Frau. »Ich brauche meine Herztabletten. Ich weiß aber nicht, ob ich sie bekomme.« Die alte Frau kramt eine Wisch Papier aus ihrer Tasche. »Ich habe das Geld nicht. Nicht mal, wenn ich nur Kartoffeln esse. Jetzt habe ich da noch so einen Wisch ausgefüllt, aber ich weiß nicht, ob es der richtige ist. Meine Nachbarin sagte, da müsse ich zwei andere Formulare aus dem Internet

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