Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
runterladen, aber das klappt nicht.« – »Wieso?« – »Mein Drucker streikt.« – »Die geben Ihnen die Tabletten auch so – das sind doch keine Unmenschen!« Frau Müller kann plötzlich nicht mehr an sich halten; sie zittert: »Meinen Sie? Ich stehe jetzt schon die dritte Woche in Folge an. Und ich brauche diese Tabletten einfach …«
Niemand achtet auf den jungen Mann, der sich ganz ins Eck der Bushaltestelle stellt. »Was ist, wenn wir zu unserem Bürgermeister, zu unserem Landrat gehen, wenn wir aufbegehren, demonstrieren, Unterschriften sammeln?« Keiner gibt ihm eine Antwort. Der junge Mann redet weiter: »Ich bin seit einem Jahr unverschuldet arbeitslos und bekomme nur noch die Notversorgung. Alles andere muss ich selbst finanzieren.« Beim Sprechen hören die Umstehenden, dass dem jungen Mann Zähne fehlen. »Kommt von den Drogen«, denkt Frau Müller, aber dann korrigiert sie sich selbst: »Woher weiß ich denn, dass es von Drogen kommt?«
Der Mann mit den Zahnlücken spricht weiter: »Heute werden sie mich wahrscheinlich wieder durch die Röhre schieben, wie vor drei Wochen. Für eine genaue Diagnose, wie sie sagen. Keine Ahnung, wie viele ›Röhren‹ ich noch auf dem Ticket habe. Meine Schmerzen gehen davon nicht weg. Wie sollen sie auch. Für die aufgeschriebenen Medikamente sollte ich so viel zuzahlen, dass ich sie gleich auf dem Tresen der MVZ -Apotheke liegen ließ.«
»Die Ärzte sind weg, die Schwestern sind weg, die Apotheke ist weg, die Sozialstation ist weg«, zieht der ältere Herr Bilanz. »Wissen Sie, was uns geblieben ist von dem, was wir hier in unserer Stadt hatten?« Er greift in seine Brusttasche und zieht ein Plastikkärtchen hervor: »Dieses elende Ding, die elektronische Gesundheitskarte, damit das medizinische Versorgungszentrum sofort weiß, welche Gelder die Einheitskasse für Sie und Sie und Sie und für mich noch bereitstellt. Patienten
auscashen
nennt man das!«
Der Bus biegt um die Straßenecke. Er ist bunt bedruckt und rappelvoll. Frau Müller hat keine wirkliche Chance auf einen Sitzplatz. Der ältere Herr bietet ihr seinen Arm an: »Das waren noch Zeiten, Frau Müller, damals, im geheizten Wartezimmer! Nicht wahr?« – »Sie Nostalgiker!«, murmelt Frau Müller.
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18. Inhumane Einsparungen IV
Der zahnlose Tiger und das Solidarsystem
W ir hatten noch über eine Stunde bis zum Abflug, als wir am Flughafen ankamen. Den ganzen Tag über hatte ich mit meinem Informanten über seine Erlebnisse gesprochen, hatte Beweise gesichtet, Ursachenforschung betrieben. Nun wollten wir nach dem Einchecken zusammen noch einen Tee trinken. Den Mann musste doch der gleiche Hunger quälen wie mich. Daher dachte ich nicht nur an meine eigenen Bedürfnisse, sondern besorgte auch meinem Gast ein Sandwich. »Nein danke«, wehrte er freundlich ab. »Ich denke, Sie haben Hunger?«, ermunterte ich ihn zum Zubeißen. Er lachte: »Ja, richtig, habe ich, aber ich bin doch ein zahnloser Tiger.« Erst jetzt realisierte ich, welche Folgen seine Erkrankung im Alltag hatte. »Wieder so ein Systemopfer des Gesundheitswesens«, dachte ich für mich. Was war geschehen?
2002 wurde bei Herrn K. ein STH (Somatotropin) mit Akromegalie (das ist eine ausgeprägte Vergrößerung der Körperglieder oder der vorspringenden Teile des Körpers) festgestellt. Hierzu zählen Hände, Füße, Unterkiefer, Kinn, Nase und Augenbrauenwülste sowie die Geschlechtsteile. Es handelt sich dabei um eine endokrinologische Erkrankung, die durch eine Überproduktion des Wachstumshormons Somatotropin ( STH ) hervorgerufen wird. Von einer Million Einwohner erkranken pro Jahr ungefähr 3 bis 4 Menschen neu. In Deutschland gibt es ungefähr 3000 bis 6000 Patienten, die von dieser Erkrankung betroffen sind. Was sind die Ursachen dieser Erkrankung? Die Akromegalie, könnte man sagen, wird durch die unkontrollierte Produktion des Wachstumshormons STH hervorgerufen. In 95 Prozent der Fälle ist der Auslöser einer Akromegalie ein gutartiger Tumor des Vorderlappens der Hirnanhangdrüse, der aber eben im Nebeneffekt diese Wachstumshormone produziert. Wie macht sich das im Alltag bemerkbar? Ein Patient entdeckt zum Beispiel, dass er eine zunehmende Fehlstellung des Gebisses hat, und sucht deswegen den Kieferorthopäden auf. Diagnostiziert man Akromegalie, kann man davon ausgehen, dass die Lebensprognose deutlich eingeschränkt und die Sterblichkeit im Durchschnitt um das 2- bis 4-Fache erhöht ist. Vielfach taucht als
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