Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
ihnen selber zu tun haben. Solidarsystem heißt: Wir alle zahlen in diesen solidarischen Topf, damit ein Ausgleich geschaffen wird – jung für alt, gesund für krank. Der Gesunde, der gerade zu Leistungen fähig ist, ist in diesem Solidarsystem bereit, den Kranken, der gerade überfordert ist, mit seinen Beiträgen zu finanzieren. Der Ausgleich lebt von dem Gedanken, dass auch der Starke einmal schwach werden könnte, ohne dass er abstürzt, denn auch in seinem Fall würde es andere, dann Stärkere geben, die ihm unter den Arm greifen.
Eingriffe in die fragile Balance dieser gegenseitigen Verpflichtung sind Gift für jede Gesellschaft, und es muss deshalb schon breit thematisiert werden. Sie zerstören den Kitt zwischen den Menschen – und der heißt
Vertrauen.
Der starke Einzahler verliert das Vertrauen, dass sein permanentes »Opfer« sinnvoll ist, weil es ihn im Fall eigener Not rettet. Der Mensch in der Not verliert den Glauben an eine humane Gesellschaft, dank deren ihm im Fall eines Falles wirklich geholfen wird. Und beide verlieren den Glauben an den Staat, der keine andere Funktion hat, es sei denn ein verlässlicher Treuhänder ihrer Interessen zu sein. Wenn manche Politiker heute meinen, die Sozialsysteme seien einen Art »Tafelsilber«, das man verscherbeln könne wie die UMTS -Lizenzen, zeigt das nur, dass sie die fundamentalen Grundlagen unseres Staates und unserer Gesellschaft nicht begriffen haben.
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19. Gesundheit 2020
Ein Markt ohne Grenzen
M it 63 Jahren ist Klaus Pohlmann noch total vital. Der Ingenieur hat sich vor acht Jahren die Firma ausgesucht, bei der er jetzt arbeitet. Nicht zuletzt hat ihn das Gesundheitskonzept des mittelständischen Unternehmens überzeugt. Denn dort gibt nicht der Inhaber, ein Geschäftsführer oder Chef den Takt vor, sondern der Gesundheitsmanager. Er stellt alles ab, was den Mitarbeitern zu schaffen macht – vom falsch eingestellten Bürostuhl bis zum Stress. »Schlechte Organisation, ruppige Vorgesetzte und übergroße Arbeitsbelastung sind Gift für die Seele«, heißt sein Credo. Natürlich sponsert der Betrieb Kurse im Fitnesscenter, stellt Räume für die Mittagsruhe bereit, bietet Entspannungsübungen während der Arbeitszeit an. Jedem steht zudem noch ein persönliches Gesundheits-Coaching zu. Das Neueste: Es gibt Zukunftsgespräche mit allen Mitarbeitern. Da geht es nicht nur um die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten jedes Einzelnen, sondern auch um »gesundheitliche Aspekte, denn die Arbeit, die für einen 30-Jährigen perfekt ist, kann einen 50-Jährigen über Gebühr belasten – oder ihn auch nicht mehr ausfüllen.«
Natürlich hat Pohlmann mit der neuen Arbeitsstelle auch den Krankenversicherer gewechselt. Der Neue ist mehr auf »Zack«; er hat neue Verträge mit »innovativen Versorgungsanbietern« geschlossen. Da geht man nicht mehr zu irgendeinem Arzt. Jetzt sucht der Ingenieur Praxisnetze und medizinische Versorgungszentren auf, wenn ihm wirklich etwas fehlt. Denn die bieten Qualität, die überprüfbar ist und die er als Laie nachvollziehen kann. »Transparenz« heißt das. Nur für die Zahnbehandlung hat er schon im Jahr 2012 eine Zusatzversicherung abgeschlossen. Damals strich die Politik diese Leistungen ganz aus dem Katalog der Krankenkassen. Sonst ist er abgesichert – bei stabilem Beitrag. Die Mieteinnahmen eines geerbten Hauses und die Zinseinkünfte aus der Hinterlassenschaft seines Vaters werden allerdings mit veranschlagt. Fazit: Er zahlt viel Geld für die Gesundheitsversorgung, bekommt aber dafür gute Leistung.
Pohlmanns Frau Simone ist Hausärztin. Natürlich arbeitet sie nicht mehr in einem dieser Altbaupraxen. Sie ist Angestellte in einem der innovativen Zentren. Arztpraxen gibt es kaum mehr welche. Die 61-Jährige »genießt« den täglichen Austausch mit Kollegen sämtlicher Fachrichtungen, die sich im MVZ ergänzen. Die meisten Patienten betreut sie (aber) ohne Rücksprache mit dem Team. Nur in Spezialfällen holt sie den Rat ihrer fachärztlichen Kollegen ein oder überweist die Patienten direkt an die Fachärzte. Die Mittagspause wird zur interdisziplinären Besprechung genutzt. Sie schwärmt von der Zusammenarbeit mit studierten Pflegefachkräften, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Präventionsmanagern, Psychologen und Betriebswirten. Chronisch Kranke, für die man medizinisch nicht mehr viel tun kann, landen gleich bei den Fall- oder Casemanagern. In deren Hand liegt die gesamte Koordination der
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