Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Versorgung – von Informationstagen, Schulungen, kleineren Routineuntersuchungen bis hin zum Hausbesuch. »Vitalia«, das Generalunternehmen Gesundheit, betreibt das MVZ . Es ist aus Klinikverbünden entstanden und liefert »Gesundheitsversorgung aus einer Hand«. Simone Pohlmann ist nur für das Medizinische zuständig. Ihre Patientendaten gibt sie in das optimierte Computersystem ein; sie kann die Daten auswerten und mit Informationen aus anderen Vitalia- MVZ vergleichen. Weichen Informationen voneinander ab, werden die Gründe dafür aufgespürt. Danach verbessert das Personal die Versorgungsqualität. Den Kontakt zu ihren Patienten (wie übrigens auch zu den Fallmanagern) pflegt Frau Doktor häufig via Telefon-Video-Beratung, per E-Mail oder über die Webcam. Die Patientenakte – Krankheitsverläufe, Röntgenaufnahmen, Blutproben, Gewebeschnitte – kann sie auf ihrem Bildschirm ebenso einblenden wie Fachartikel und Leitlinien. Vorteil: »Manchen Patienten erspart sie den Weg in die Praxis. Diese sind zu Hause in ihrer eigenen Umgebung und entspannt, was Simone Pohlmanns Arbeit sehr erleichtert.«
Die 77-jährige Erika Klein muss sich vor ihrer anstehenden Hüftoperation um nichts kümmern. Der OP -Fallmanager des MVZ übernimmt das für sie. Er kennt alle Statistiken der Kliniken, mit denen sein Unternehmen zusammenarbeitet. Die Seniorin kann sich also informiert entscheiden. Dann erfährt sie, was vor und nach dem Eingriff auf sie wartet: » OP -Vorbereitungskurse, Rehabilitation, Nachbereitung, ärztliche Betreuung, ein ambulantes Team aus Pflegefachkraft, Krankengymnastin und Haushaltshilfe. In der Reha können Angehörige sogar preiswert übernachten und mithelfen, dass die Rekonvaleszenz noch besser gelingt. Und die Physiotherapeutin studiert schon vor der OP die Übungen mit der Patientin ein.«
So weit die beiden Geschichten. Hoffentlich haben Sie nicht den Glauben an mich verloren, als Sie meiner paradiesischen Schilderung gefolgt sind. Nein, diese Vision ist nicht in meinem Kopf entstanden. Und sie wird so auch nie eintreten. Die hier zusammengefassten »Geschichten« sind Fiktion, frei erfunden, heißt es. Nachzulesen sind sie im Zukunftsmagazin Zwanzig Zwanzig der Bertelsmann Stiftung. Die Hochglanzbroschüre zur künftigen Gesundheitsversorgung ist im August 2007 erschienen. Man habe da nur Trends aufgegriffen, die sich heute schon abzeichnen, machen die Autoren glauben.
Das Zukunftsszenario der Bertelsmann Stiftung halte ich für Propaganda, um den Menschen jenen verhängnisvollen Systemwechsel schmackhaft zu machen, der sich gerade vollzieht.
Natürlich bedeutet Markt immer nur eines: Geld verdienen, um Anteilseigner mit einer Rendite zu befriedigen. In der Sozialgeschichte unseres Landes haben weise Menschen aber das Thema Gesundheit aus den allertriftigsten Gründen aus dem Markt herausgehalten, sonst wären wir immer noch im 19. Jahrhundert, in dem man an bestimmten Krankheiten starb, wenn man kein Geld hatte, sich einen Arzt zu kaufen. Aber dorthin kommen wir wieder, auch wenn es in Bertelsmann-Studien nicht vorgesehen ist.
Aber betrachten wir einfach aufmerksam, was da an faktischen Momenten »gelüftet« wird. Das Codewort lautet »Versorgung«. Ich kann nur immer wieder auf die falschen Untertöne dieses Wortes hinweisen. In dem Wort steckt das hochchristlich aufgeladene Urwort »Sorge«, gegen das keine Menschenseele etwas haben kann. Eltern sorgen sich um ihre Kinder; Kinder sorgen sich um ihre Eltern. Das ist humaner Grundbestand, die Essenz liebevoller Zuwendung. Wo Liebe da ist, sorgt man sich umeinander. Wenn aus »Sorge« das Wort »Ver-Sorgung« wird, höre ich den preußischen Amtsschimmel wiehern. Da wird aus Liebe ein einklagbarer, knallender Rechtstitel: »Ich habe ein
Recht auf Versorgung!
« Der Staat schuldet Versorgung.
Natürlich muss Versorgung sein, wo die Sorge versagt. Dafür ist ja der Staat da. Aber wie schnell wird aus der Hilfskonstruktion »Versorgung« ein totalitäres System, das knechtet statt dient, versklavt statt befreit, ausbeutet statt hilft. Ob das nun die »integrierte Versorgung« ist oder die »flächendeckende Versorgung«: Ich höre da Befehl, Gehorsam, Kontrolle und durchgehend Angst um die menschliche Behandlung bei den Bürgerpatienten und Existenzangst bei den niedergelassenen Ärzten.
Man erfährt doch immerhin, wer die Versorgung dann steuert. Es sind die Betriebswirte und Fallmanager. Man erfährt auch, an welchen Kriterien sie sich
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