Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
ist vorgeschrieben, dass an jedem Pflegebedürftigen, je nach Pflegestufe, jeden Tag bestimmte Verrichtungen vorgenommen und dokumentiert werden müssen. Dafür hat die Pflegekraft ein gewisses Zeitbudget. Nach diesen Vorgaben werden alte Männer mit wenig Haaren auf dem Kopf jeden Tag gekämmt. Man wird auch vorschriftsmäßig geduscht oder gebadet, ob es dem einzelnen Patienten nun passt oder nicht. Wie sagte mal ein alter Hamburger zu diesem Unfug, der an Nötigung grenzt: »Ich bin in meinem ganzen Leben nie und nimmer jeden Tag in die Badewanne gesessen. Da beschleicht mich doch das Gefühl, dass ich mich auflöse.« Er bat den ambulant tätigen Pfleger, statt ihn in die Wanne zu setzen, ihm lieber eine Kiste Mineralwasser zu besorgen. Doch das darf der nicht. Das gehört nicht zu den Pflegemodulen. Damals war Jung noch im Amt. Er gelobte, Pflegevorgaben in ein Zeitbudget zu verwandeln, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Geändert hat er nichts. Es darf weiter »moduliert« werden.
Doch zurück zu den Hilfsmitteln. Wer hier nachschaut, kommt ans Beten: »Herr, lass mich doch nie zum Pflegefall werden.« In Karl Jungs Analyse des Reformbedarfs der Pflegeversicherung nimmt gerade das Abgrenzen der Zuständigkeiten einen prominenten Platz ein. Zur gleichen Zeit verkünden hingegen die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Hilfsmittelproblematik bedürfe keiner gesetzgeberischen Änderung, denn sie sei im Prinzip geklärt. Gegen diese Aussage spricht, dass weder die Herzog-Kommission – unter Leitung des Altbundespräsidenten Roman Herzog befasste sie sich 2003 mit dem Thema »Soziale Sicherheit. Zur Reform der sozialen Sicherungssysteme« – noch die Rürup-Kommission, benannt nach dem Ökonomie-Professor Bert Rürup – die unter dem Titel »Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialleistungssysteme« dieses Problemfeld beackerte.
Sicher ist, dass Pflegebedürftige Anspruch haben auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen und ihm eine selbständige Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind (§ 40, Abs. 1, SGB XI ).
Die Pflegebedürftigen sind dieser Auseinandersetzung um die Auslegung des Gesetzestextes ausgeliefert. Viel zu oft – die Fallbeispiele könnten allein ein Buch füllen – werden im Pflegebereich Hilfsmittel vonseiten der Krankenkassen abgelehnt. Steht dem Pflegebedürftigen dann niemand aus seinem sozialen oder familiären Umfeld oder eine engagierte Heimleitung bei und hilft ihm beim Formulieren des Widerspruchs (denn der Betroffene muss ihn einlegen), passiert genau das, was der Kassenmann sagte: »Erst mal lehnen wir alles ab und warten dann auf den Widerspruch und zahlen dann. Denn durch die wenigen, die Widersprüche einlegen, machen wir durch die Ablehnung Gewinn!«
Soll ein Mensch, der Pflege braucht, die Sozialgesetze studieren? Und blickt überhaupt noch jemand durch, welche Paragraphen, Richtlinien, Vorgaben für welchen Einzelfall gelten? Oder andersherum gefragt: Hat ein Pflegebedürftiger die Kraft oder das Geld, sich über einen Spezialanwalt sein Recht zu holen? Genau hier fängt die gesellschaftspolitische Diskussion an. Wie kann es sein, dass die Kassen (alle Körperschaften öffentlichen Rechts) über ihre Spitzenverbände in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei die Hilfsmittelproblematik geklärt? Wie kann es sein, dass Kassen immer wieder neue Abgrenzungskataloge überarbeiten und verabschieden, ohne dass die zuständigen Sozialministerien in Bund und Ländern tätig werden? Sie beaufsichtigen die Körperschaften.
Die Grauzone, denke ich, liegt im Interesse derer, die auslegungstechnisch am längeren Hebel sitzen. Natürlich kann jemand, der seit Jahr und Tag Heil- und Hilfsmittel bewilligt oder ablehnt, dem frisch Betroffenen helfen, dass er zum Nötigen kommt. Sofern er aber im Interesse einer gewinnorientierten Unternehmung agiert, wird er den Teufel tun, schlafende Anspruchsberechtigte zu wecken und ihnen auf Kosten seines Unternehmens beizustehen. Natürlich kann man vom Schreibtisch aus den Gesetzestext drehen und wenden, bis seine Vorgaben zur Gewinnmaximierung passen. Also, wat is en Dampmaschin? Da stelle mer uns janz dumm. Nur – in der Zwischenzeit liegt der Mensch schon längst wund,
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