Kraut und Rübchen - Landkrimi
beim Essen oder bei praktischen Dingen des Alltags.
Ob die Traditionen, Hierarchien und die festen Regeln, die vor mir aus den Zeilen des Tagebuchs auftauchten, heute noch galten, würde sich herausstellen. Ob ich dann damit leben könnte, war eine ganz andere Frage.
»Nimm auch eins hiervon. Helga hat die Windbeutel gebacken, und sie sind ein Traum. Obwohl ein einziger ungefähr zehntausend Kalorien beinhaltet.« Mila lächelte in die Runde. Warum sie diese Information wie ein Agent auf geheimer Mission zwischen ihren Zähnen hindurch in meine Richtung gequetscht hatte, konnte ich mir nicht erklären. Dankend lehnte ich ab.
»Nur noch ein Krümel, und ich platze. Ich habe mich durch alle Torten probiert und eines dieser Obsttörtchen dort verputzt.«
»Die mit Marzipan?« Mila zeigte auf die harmlos wirkenden Kirsch-Tartelettes, und ich nickte. »Ich nenne sie liebevoll Hüftgold.« Sie grinste und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gastgeberin, die mit einer dickbauchigen Flasche in der Hand am Tisch stand und allen ein volles Schnapsgläschen reichte.
»Auf Marion«, sagte sie laut, hob ihr Glas und trank es in einem Zug leer. Wir taten es ihr nach. Der Schnaps brannte in meinem Hals, und kurzzeitig fragte ich mich, ob ich dadurch Gefahr lief, mein Augenlicht zu verlieren. Die Flasche kreiste erneut, und in Sekundenschnelle hatten die Frauen wieder ein volles Glas vor sich stehen. »Und auf Katharina, ihre …« Sie machte eine Pause, sah bedeutungsvoll in die Runde und beendete dann den Satz: »Ihre Nichte.«
Ich lächelte und trank. Trotz des Kuchens stieg mir der Alkohol zu Kopf.
»Konntest du dich denn schon ein bisschen eingewöhnen, Kati?«, wollte die Frau am Ende der Tafel wissen, die ich vage mit dem dorfeigenen Tante-Emma-Laden in Verbindung brachte. Sie meint es sicher nett, bremste ich mich und verkniff mir einen empörten Widerspruch. Seit ich ein Kind war, hasste ich es, wenn mich jemand Kati nannte. Diese Abkürzungen und Verniedlichungen waren mir ein Graus. Sie riefen unschöne Erinnerungen von einsamen Vormittagen in Schulhofecken hervor: »Kati Spinati«.
Noch schrecklicher als »Kati« war »Käthchen«. Die Küsse auf meinem Gesicht, großmütig und von den Schwestern meiner Großmutter mit viel Spucke verteilt, spürte ich bis heute. Unwillkürlich wischte ich mit dem Handrücken über meine Stirn, bevor ich zur Antwort unbestimmt vor mich hin grunzte.
»Und was ist mit Marions Nachlass? Hast du schon einen Blick hineinwerfen können?« Die Frage kam von links.
»Du hast das doch auch studiert, oder nicht? Ich meine, Marion hätte einmal so etwas erzählt.« Eine helle Stimme von rechts.
»Wir freuen uns ja so, dass du hier bist.« Links hinten.
»Es muss schließlich weitergehen.« Direkt rechts neben mir, begleitet von einem tiefen Seufzer und einem zarten Tätscheln meines Unterarms.
»Zu schade, wenn das alles in Vergessenheit geriete, gerade jetzt, wo wir solche Probleme …«
»Nun lasst die arme Katharina doch erst einmal zu Luft kommen. Ihr überrennt sie ja förmlich«, stoppte Mila das wilde Durcheinander und fuhr sich energisch mit der Hand über den Mund.
Die Frauen verstummten schlagartig. Eine eigenartige Stille trat ein.
»Hier.« Mila stellte ein weiteres Glas des Selbstgebrannten vor mich hin. Ich trank aus einer Art Notwehrreaktion heraus. »Vielleicht sollten wir uns einfach erst einmal vorstellen, so wie höfliche Menschen das zu tun pflegen?«, schlug Mila vor.
Die Frauen nickten synchron.
»Marga und Ellen kennst du ja schon.« Mila streifte die beiden mit ihrem Blick und zeigte dann auf die Frau neben sich, eine herbe, aber sehr gepflegte Erscheinung mit kurzem grauen Haar und einer auffallenden Brille. »Das ist Monika. Sie ist die Frau unseres verstorbenen Arztes.«
Monika hob ihr Glas und prostete mir zu. Ich reagierte mechanisch. Ex und hopp.
»Neben ihr sitzt Ingrid, daneben Barbara. Sie sind Schwestern und leben seit dem Tod ihrer Männer wieder gemeinsam in ihrem Elternhaus.«
Die Geschwister hoben ebenfalls ihre Gläser. Als der Schnaps meine Kehle hinunterlief, wurde mir klar, dass ich aufhören musste zu trinken, wenn ich meiner Leber keinen ernsthaften Schaden zufügen wollte, denn es saßen noch vier weitere mir unbekannte Frauen am Tisch. Mila schenkte mir jedes Mal nach, sobald ich ausgetrunken hatte. Und das, was da in sattem Rot in meinem Glas schwappte, war definitiv keine Limonade.
»Was wollte denn die Polizei von dir?«,
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