Kreuzberg
lassen
ihn gewähren, sind sogar froh, ihn bei uns zu haben, denn er ist zurückhaltend,
pflichtbewusst und ein guter Ermittler. Nach der Vereinigung der Stadt war ich
fest überzeugt, dass Beylich alles hinwerfen würde. Zu sehr trauerte er um
seine DDR , zu sehr demütigte den ehemaligen Major und Kriminalrat die
Rangabstufung zum Oberkommissar. Es ist Palitzsch zu verdanken, dass er
zusammen mit seinem loyalen Assistenten Rainer Matuschka (wir nennen ihn hier
Beylichs Knappen) zu uns in die Keithstraße kam.
Beide
machen einen erstklassigen Job, dennoch werde ich manchmal den Eindruck nicht
los, dass Beylich nur auf bessere Zeiten wartet, dass er hofft, dass sich das
politische Blatt noch einmal wendet.
Er legt
Wert auf kurze, klare Mitteilungen und hat frischen Wind in unsere Abteilung
gebracht. Die Abläufe wurden perfektioniert, Memosysteme präzisiert,
Weisungsketten optimiert. Nicht jeder ist damit einverstanden.
Hünerbein
zum Beispiel lästert gern, dass Beylich unsere Inspektion M1 zu seinem
alten Kripoamt im Osten umstrukturiert hat; alles wird spezialisiert, mit
eindeutig definierten Aufgaben, Programmen und Prozessen, die die
Ermittlungsarbeit effektiver machen sollen.
»Aber sind
wir deshalb wirklich effektiver geworden?« Hünerbein bezweifelt dies. »Wir
haben unsere Fälle früher doch auch gelöst.«
»Aber nicht
so ordentlich abgeheftet«, spotte ich.
»Das hängt
damit zusammen, dass die im Osten früher so eine militärische Kommandostruktur
hatten«, sinniert Hünerbein. »Das kann der Beylich einfach nicht ablegen.
Erinnerst du dich noch, wie gemütlich es früher bei uns war? Wir sind ganz
anders an die Mordfälle herangegangen, da war noch Raum für Ideen und Kreativität,
für, für … Menschlichkeit. Heute dagegen werden Psychologen beauftragt,
wenn es ums Menschliche geht. Jeder Schritt der Ermittlung wird spezifiziert,
der macht das, der andere das. Und Lagebesprechungen finden nur noch im
Kommandoton statt, in dieser kalten Militärsprache.« Hünerbein regt sich auf.
»Dabei habe ich mal den Wehrdienst verweigert! Nicht weil ich Pazifist bin,
sondern weil ich keinen Bock hatte auf diese empathielose, nur Fakten
bezeichnende Sprache der Bundeswehr. Deswegen bin ich damals nach Berlin
abgehauen. Vor den Kommissköppen. Und jetzt haben wir hier genau so einen bei
uns. Manchmal kommt es mir vor, als wären wir alle nur noch Maschinen. Wir
leben nicht, wir funktionieren.«
»Mehr wird
von uns auch nicht verlangt.«
»Aber wo
bleibt der kriminalistische Instinkt?« Hünerbein verdrückt ein Senfei nach dem
anderen. »Die Intuition, die einen Mordfall erst für den Ermittler erfahrbar
macht. Das geht doch alles verloren.«
Eine
ähnliche Diskussion hatte ich vor ein paar Wochen mit Melanie. »Ihr existiert
nur noch«, hatte sie mich angeschrien, mit der typischen pubertären Verachtung
für alles Erwachsene, wie sie nur siebzehnjährigen Mädels eigen ist. »Ihr habt
völlig verlernt, was es heißt zu leben! Selbst Gefühle werden bei euch optimiert
und den jeweiligen Erfordernissen angepasst. Ihr habt vergessen, wer ihr seid!«
Und jetzt
fängt Hünerbein genauso an. Ausgerechnet er, der gerade selbst dabei ist, sich
und seine Freiheit zu verlieren. An diese Catherine Hirondeau, an die
Hirngespinste der Astrologie. Ein Mann, der nicht mehr rauchen will und nur
noch Nahrung zu sich nimmt, wenn die Sterne es erlauben, beklagt sich, dass er
im Beruf funktionieren soll. Irre!
»Diese
Professionalität«, nuschelt er kauend, »kotzt mich zunehmend an. Wir können
hinkommen, wo wir wollen, die Spezialisten sind schon da.«
»Palitzsch
gefällt’s. Das ist genau nach seinem Geschmack.« Ich wende mich Beylich zu, der
wie ein General im Krieg vor einer Karte des Viktoriaparks die Lage erläutert.
Nach dem
Anruf in der Notrufzentrale Viertel vor eins sei der Viktoriapark von der
Polizei abgeriegelt und von Hundestaffeln und Sondereinsatzkräften durchsucht
worden. Die Einsatzleitung lag bei der Kollegin Kriminalhauptkommissarin Inga
Lenz, Abteilung Sexualdelikte. Sie ermittle seit einigen Monaten wegen diverser
Übergriffe auf Frauen im Viktoriapark. Tatsächlich wurde am Wasserfall eine
weibliche Leiche aufgefunden, die nach ihren Ausweispapieren als Swantje
Steffens, achtundvierzig Jahre alt und Mitarbeiterin des Kreuzberger
Finanzamtes identifiziert werden konnte.
»Wieder
ein«, mit spitzen Lippen nippt Palitzsch am Tee, »Vergewaltigungsopfer?«
»Das ist
nicht völlig
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