Kreuzberg
Und die Tatsache, dass sie nicht deine Waffe,
sondern nur die Schlüssel mitgenommen haben.«
»Ja, das
ist wirklich merkwürdig«, sagt Hünerbein. »Die wollen unbedingt ihr Auto
zurück. Und sie haben die ganze Wohnung durchsucht. Es fehlen sämtliche
persönlichen Unterlagen von Swantje Steffens. Keine Geburtsurkunde, keine
Familienakten, keine Fotos, nichts!« Er greift wieder zum Telefon und wählt
eine Nummer. »Nur diesen Ordner hier haben sie vergessen«, sagt er, während er
darauf wartet, dass sein Anruf entgegengenommen wird, und drückt mir eine
Aktenmappe in die Hand. »Solltest du dir mal anschauen. Sieht ganz so aus, als
habe unsere tote Vollzugsbeamtin selber ziemliche Geldprobleme gehabt.«
Ich
blättere den Ordner durch. Rechnungen von Möbel- und Versandhäusern sind da
eingeheftet, Kreditverträge, Mahnungen von Inkassodiensten,
Pfändungsandrohungen. Der Klassiker: Kreditkauf, bis einen die Schulden
erdrücken. Offenbar war die gebürtige Rostockerin den Verheißungen der freien
Marktwirtschaft nicht gewachsen.
Mir fällt
ein ausgeschnittener Zeitungsartikel auf. Er ist an den letzten
Vollzugsbescheid geheftet und bezieht sich auf einen spektakulären Banküberfall
am Mehringdamm vom vorvergangenen Donnerstag. Der große Coup eines
Einzeltäters, wie es heißt. Angeblich hat er weit über fünfhunderttausend Mark
erbeutet. Dahinter sind handschriftlich drei Ziffern notiert: die Zehn, die
Neun und die Zweiundsiebzig.
Was kann
das bedeuten? Nachdenklich lasse ich den Ordner sinken. Waren die Geldprobleme
der Finanzbeamtin so gravierend, dass sie auf kriminelle Gedanken kam? Plante
sie etwa selbst einen Bankraub, um aus der Schuldenfalle zu kommen? Und was hat
sie nachts auf dem Kreuzberg gemacht? Sich mit Hüseyin Misirlioglu getroffen?
Weil sie von ihm mehr wollte, als nur das Auto pfänden? Hat sie den
Blumenhändler möglicherweise erpresst? Und ist dann etwas entsetzlich
schiefgegangen?
Gott, ist
das ein entsetzlicher Krach hier: Hünerbein brüllt in den Telefonhörer, die
Spurensicherer kramen lautstark in ihren kriminaltechnischen Utensilien, und
die Rettungssanitäter versuchen, mich zu überreden, doch mit ins Krankenhaus zu
kommen.
»Nur, um
etwaige Komplikationen auszuschließen, in Ordnung?«
Absolut
nicht. Hünerbein hat sein Telefonat beendet und legt fassungslos den Hörer auf.
»Die haben
sich den Wagen tatsächlich geschnappt! Aus der Sicherstellung! Am helllichten
Tag! Ist das zu fassen?«
Das ist
zumindest ziemlich dreist.
»Ich habe
gerade mit einem Polizeiwachtmeister Tauwetter oder so ähnlich telefoniert«,
fährt Hünerbein fort, »der hat da heute Dienst. Brutaler Überfall, sagt er.
Hatte Glück, dass er mit dem Leben davongekommen ist.«
Was haben
die vor, überlege ich wieder, warum klauen die das Auto? Das macht doch alles
keinen Sinn.
»Also gut!«
Ergeben sehe ich die beiden Rettungssanitäter an. »Fahren wir ins Krankenhaus.
Und geben Sie mir endlich was gegen die furchtbaren Kopfschmerzen.«
»Nach der
Untersuchung, Herr Knoop.«
Sie helfen
mir hoch und bringen mich zur Tür.
Beim
Hinausgehen reiße ich Damaschke das Basecap mit dem Schriftzug »Kriminaltechnik«
vom Kopf und setzte es mir auf die Tonsur. So muss ich meine Mitmenschen nicht
länger mit einer Glatze beeindrucken. Ein Mist das alles, ich habe an der
Stelle ohnehin schon viel zu dünnes Haar. Und die rasieren es mir auch noch ab.
Nicht zu fassen, ehrlich, das ist heute ein richtiger Scheißtag!
12 ORHAN BRAUCHTE eine ganze Weile, um sich zu
beruhigen. Wie ein Wahnsinniger war er mit dem Mercedes über den Innsbrucker
Platz gerast, obwohl Bruder und Vater eindringlich auf ihn einschrien. Er solle
langsamer fahren, unauffälliger und nicht so hektisch, sonst würden die Bullen
doch noch auf sie aufmerksam.
Mehr als
einmal verlor er fast die Kontrolle über den Wagen, doch er konnte nicht
anders. Die Anspannung musste irgendwie raus.
Immerhin
hatte er Vaters Wagen trotz aller Schwierigkeiten klargemacht, war ruhig und
überlegt vorgegangen. Vorausschauend wie ein Schachspieler und kühl wie ein
Killer. Sogar als sich dieser durchgeknallte Bulle auf die Kühlerhaube geworfen
hatte, behielt Orhan die Nerven. Erst jetzt, wo alles vorbei war, kam das große
Flattern. Orhan hatte plötzlich Schiss, totale Panik, und sein Fuß trat ganz
automatisch das Gaspedal durch. Fluchtinstinkt, verstehste?
Erst hinter
dem Autobahnkreuz Schöneberg, auf dem Zubringer nach Steglitz, bekam sich
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