Kreuzberg
und war bald wieder an dem Wolga dran. Gegen die hundertneunzig PS des 525i kam der Russenbenz nicht an. Wieder setzte Naumann zum
Überholen an, und wieder zog der Wolga rechtzeitig rüber.
Naumann
stoppte auf, riss das Steuer herum und versuchte, an den Russen nun rechts
vorbeizufahren, aber der Wolga wechselte ebenfalls die Spur und ließ Naumann
nicht durch.
Na gut,
dachte der, wir hatten halt alle dieselben Lehrmeister.
Er ließ
weitere Überholversuche zunächst bleiben und hielt sich nur dicht an dem Wolga
dran. Der nahm die Abfahrt Kaiserdamm, fuhr aber dann nicht nach Osten in die
Innenstadt, sondern nach Westen, Richtung Spandau.
Wo,
verdammt, wollen die hin, dachte Naumann. Er hatte fest damit gerechnet, dass
sie Meyer in die Botschaft bringen wollten, doch die lag in Mitte. Wieso fuhren
die jetzt in entgegengesetzter Richtung?
Der Wolga
fädelte sich in den Kreisverkehr am Theodor-Heuss-Platz ein und bog in die
Heerstraße ab.
Naumann
spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Er klaubte einen Falk-Plan aus
dem Seitenfach der Fahrertür hervor und versuchte ihn, ohne den Verkehr und die
Russen aus den Augen zu verlieren, aufzuschlagen, wobei er die patentierte
Faltung einmal mehr verfluchte. Wer sich diesen Scheiß hatte einfallen lassen,
gehörte ins Irrenhaus, also wirklich! Endlich hatte er die richtige Seite und
klappte sie nach links auf. Es gab hier nichts, wo die Russen hinkönnten, das
gesamte Westend und Spandau hatten immer zum britischen Sektor gehört. Oder
unterhielten die hier etwa irgendwo einen geheimen Stützpunkt?
Das alte
Olympische Dorf! Naumann ging plötzlich ein Licht auf. Natürlich! Die Kerle
wollten ins Olympische Dorf! Es lag gleich hinter der Stadtgrenze im
brandenburgischen Elstal auf ehemaligem DDR -Gebiet. Nach der Olympiade
1936 wurde das Sportlerdorf von der Wehrmacht als Infanterieschule genutzt. Und
seit dem Krieg diente es der Sowjetarmee als strategisch wichtiger Stützpunkt
direkt an der früheren Grenze zu Westberlin. Über die Heerstraße kam man
geradewegs dorthin, die Mauer war seit knapp zwei Jahren perdu und Deutschland
wiedervereint. Nur die Russen waren noch da.
Naumann
griff ins Handschuhfach, zog seine Pistole heraus und schraubte den
Schalldämpfer auf. Der dämpfte nämlich nicht nur den Schall, sondern auch den
Rückstoß, und darauf kam es heute an, wenn er nur mit einer Hand zielsicher
treffen wollte. Ein Schuss sollte reichen, um die Russen zu stoppen. Auf keinen
Fall wollte sich Naumann in ein längeres Feuergefecht verwickeln lassen. Das
fehlte ihm gerade noch, er hasste den Einsatz von Schusswaffen ohnehin.
Vor Jahren
war er zum anständigen Bürger geworden, er hatte eine nette Familie und ein
schönes Haus im noblen Dahlem und war als angesehener Rechtsanwalt und Notar
sowie Professor der Juristischen Fakultät an der Freien Universität ein
geschätztes und geachtetes Mitglied der Westberliner Gesellschaft. Schusswaffen
passten da weniger ins Bild. Zur Tarnung hatte er sich einer Schützengilde
angeschlossen, zuletzt aber das Trainieren gröblich vernachlässigt.
Wozu auch?
Seine geheimdienstliche Tätigkeit beschränkte sich auf das Studieren von Akten,
die Verteidigung aufgeflogener Genossen und notarielle Beurkundung.
Verfolgungsjagden kamen da nicht vor, genauso wenig wie der Einsatz von
Handfeuerwaffen. Dass sich die Dinge einmal so entwickeln würden, konnte doch
kein Mensch ahnen. Jeder Tag ein neuer GAU , unglaublich war das,
geradezu unerhört!
Naumann
legte die Waffe entsichert neben sich auf den Beifahrersitz und ließ die
Seitenscheibe herunter. Dann konzentrierte er sich wieder auf den Wolga.
Mit dem
Autofahren war es besser als mit dem Schießen, denn gleichzeitig mit Naumann
war Ende der siebziger Jahre ein Genosse nach Westberlin eingeschleust worden,
der es rasch zum hohen Funktionär beim ADAC gebracht hatte. In dieser
Eigenschaft veranstaltete er regelmäßig mehrmals im Jahr geheime
Fahrsicherheitstrainings extra für in Westberlin agierende M f S -Agenten
auf diversen, dafür eigens angemieteten Sportplätzen oder noch nicht
fertiggestellten, für den offiziellen Autoverkehr gesperrten Teilstücken der
Stadtautobahn. Naumann hatte diese Treffen nie versäumt. Gottlob, denn jetzt
kam es auf fahrerisches Können an.
Die
Heerstraße war eine schnurgerade Allee mit fünf Fahrspuren. Zwei für den
Verkehr stadtauswärts und zwei für den Gegenverkehr. Die fünfte Spur in der
Mitte wurde je nach
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