Kreuzberg
kommt hastig auf mich zu.
Mit ausholender Geste zeigt er auf das TV -Gerät und ruft mit sich
dramatisch brechender Stimme: »Sieh, was passiert!«
So
aufgeregt habe ich den alten Mann selten gesehen. Er wirkt plötzlich uralt,
fast gebrochen vor Sorge, und auch seine Söhne sehen ungewohnt blass aus. Wie
gelähmt starren sie auf den Bildschirm. Dort ist jetzt eine Truppe
gesichtsloser Typen in sowjetischen Funktionärsanzügen zu sehen, die sich »Staatliches
Komitee für den Ausnahmezustand« nennt und die Macht in Moskau übernommen hat.
Angeblich »weil Gorbatschow plötzlich schwer erkrankt ist und sich dringend
erholen muss« …
»Wir machen
uns große Sorgen.« Enzo hat tatsächlich Tränen in den Augen. »E una situazione complicata.« Er umarmt mich wie einen alten Freund
und sieht mich dann mit einem Ausdruck größter Bekümmerung an. » E pericoloso .
Sehr gefährlich für diese Stadt.«
»Moskau ist
weit weg, Enzo.« Ich tätschele beruhigend seinen Arm und gehe auf Monika zu,
die an einem Tisch am Fenster sitzt und eifrig etwas in eine Maschine tippt,
die wie ein kleiner Reisecomputer aussieht.
»Na, noch
beim Arbeiten?« Neugierig sehe ich ihr über die Schulter. Es ist tatsächlich
ein klappbarer Computer. Er hat den Monitor im Deckel und passt in einen
normalen Aktenkoffer.
»Spart
einen Haufen Papier«, erklärt Monika. Sie zieht eine Diskette aus dem Computer.
»Siehst du? Das bekommt die Chefredaktion, und die können das dann an ihren
Computern gleich fürs Blatt layouten.«
»Vorausgesetzt,
sie drucken es auch.« Ich setze mich an den Tisch.
»Noch haben
wir eine freie Presse.« Monika klappt das Gerät zu. »Man nennt das Ding
›Notebook‹. Das neueste Modell von Toshiba.«
»Was kostet
so was?«
»Keine
Ahnung. Hat der Verlag bezahlt.«
»Scusa.« Enzo bringt die Karten. »Ich kann heute nur empfehlen eine
wunderbare vassoio di pesce per due , Dorade, Lachs,
Scampi – alles ganz frisch und …«, irritiert starrt er auf meine
Kippa, »… vielleicht auch koscher? – Non
sapevo che sei un Ebreo ,
seit wann bist du Jude?«
»Seit
Samstag«, antworte ich und will ihm von meinen gefährlichen Einsätzen erzählen,
doch Moni sagt: »Wir nehmen die Vassoio di pesce«, und schon bin ich kein Thema
mehr.
»Soave dazu
oder lieber einen Gavi?«
»Gavi ist
lecker«, findet Monika und bestellt noch zwei große Salatteller, »wie immer!«
Was heißt,
wie immer? Monika ist seit gerade mal einem knappen Jahr in Berlin. Zuvor habe
ich bei Enzo bestellt, und zwar jahrzehntelang. Salat kam bei mir weniger vor,
mir reichte das Grünzeug, das ohnehin immer auf den Tellern liegt. Aber jetzt
ist Monika da und bestimmt das Geschehen selbst bei Enzo.
Mitleidheischend
sehe ich ihn an. Ihm muss doch auffallen, dass sich mein Essverhalten atypisch
verändert hat, seitdem diese Frau wieder in mein Leben getreten ist.
Aber Enzo
hat immer nur Augen für Monika, er tänzelt um sie herum, dieser alte geile
Bock, macht Witzchen und besticht mit seinem Italo-Charme – normalerweise.
Heute
dagegen steht er kummervoll und zusammengesunken an unserem Tisch. »Wird es
geben wieder Krieg?«
»Das wollen
wir doch nicht hoffen, oder?« Ich wende mich Monika zu. »Ist es wirklich so
ernst in Moskau?«
»Eine
Gruppe von Hardlinern um KGB -Chef Krjutschkow und
Marschall Jasow versucht seit heute Morgen, das Rad der Geschichte
zurückzudrehen«, erklärt sie mir. »Sie haben die Macht übernommen und den
Ausnahmezustand verhängt. Vizepräsident Janajew ist zum Interimspräsidenten der
Sowjetunion ernannt worden. In den sowjetischen Medien wird nur noch Marschmusik
gespielt und stündlich die Ansprache Janajews wiederholt. Klingt alles nicht
gut.«
»Mag sein«,
entgegne ich. »Aber deswegen wird doch die Einheit Deutschlands nicht wieder
rückgängig gemacht.«
»Da wäre
ich mir nicht so sicher. In Ostdeutschland stehen noch hunderttausende von
Sowjetsoldaten. Berlin ist praktisch umzingelt.«
»Damit
würden sie einen dritten Weltkrieg riskieren.«
»Wer? Die
Amerikaner?« Monika lacht bitter auf. »Kaum. Die riskieren keinen dritten
Weltkrieg, bloß weil die Sowjets den früheren Status quo wiederherstellen. Die
lassen das einfach laufen, glaub mir. Als damals die Mauer gebaut wurde, haben
sie auch nicht eingegriffen.« Sie wartet, bis Francesco eine Karaffe Wasser auf
den Tisch gestellt und sein Bruder den Wein eingegossen hat.
»Der
Kommunismus ist zurück«, sagt sie dann leise, »die
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