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Kreuzberg

Kreuzberg

Titel: Kreuzberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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helfen, ich
weiß nur nicht, wie.
    »Die haben
sich in geheimen Netzwerken organisiert«, sie senkt ihre Stimme, »sogenannten
Seilschaften. Ganz unauffällige Leute, die normal und zuverlässig ihren Dienst
machen. So wie dieser Major Beylich bei euch. Sicher ein guter Kriminalist.«
    »Das ist
er«, bekräftige ich.
    »Eben.
Solche Leute werden gebraucht. Gut ausgebildet, pünktlich, zuverlässig. Und sie
mucken nicht auf.«
    Das ist
tatsächlich eine perfekte Beschreibung von Beylich.
    »Bis das
Signal zum Zuschlagen kommt.« Monika lehnt sich zurück, weil Francesco die
Vassoio di pesce bringt. »Dann werden sie aktiv, wo sie auch stehen. Und wir
bekommen ein Riesenproblem. Weil sie überall sind.« Sie nickt Francesco dankend
zu und beginnt zu essen.
    Mir dagegen
ist der Appetit vergangen. Denn was Monika hier entwirft, ist ein absolutes
Horrorszenario. Ich stelle mir einen blutigen Aufstand vor, überall kriechen
sie aus ihren Löchern, die ollen Beylichs des Ostens und schießen den Russen
den Weg in die deutsche Hauptstadt frei.
    Aber ist
das so abwegig? Nicht zwingend. Monika mag durch ihre DDR -Vergangenheit
sensibilisiert sein, weiß aber in der Regel sehr genau, was sie tut und sagt.
Sie ist Journalistin, keine Verschwörungstheoretikerin. Wenn sie also von
geheimen Seilschaften berichtet, wird da etwas dran sein, zumal sie ja schon
länger in der Sache recherchiert. Und ganz sicher wird es keinen dritten
Weltkrieg geben, wenn sich die Russen Ostdeutschland zurückholen und Westberlin
dazu.
    Es wird
diplomatische Verstimmungen geben, einen Aufschrei der Weltöffentlichkeit,
einen Abbruch bilateraler Beziehungen – doch der große Atomschlag wird
ausbleiben. Die Großmächte haben sich so hochgerüstet, jeder Krieg zwischen
ihnen würde das Ende der Menschheit bedeuten. Und wen interessiert dann noch
das freie Berlin oder die Einheit Deutschlands, wenn die ganze Welt auf dem
Spiel steht …
    Im
Fernsehen wird gerade eine Stellungnahme der Bundesregierung zu den aktuellen
Ereignissen in Moskau verlesen. Darin wird die neue sowjetische Regierung
aufgefordert, die aktuellen Verträge einzuhalten und die Politik der
Entspannung fortzusetzen. Doch wird das in Moskau noch gehört?
    Oder gilt,
was der stellvertretende sowjetische Botschafter einem Reporter ins Mikrofon
diktiert?
    »Verträge
kann man kündigen, wenn man die richtigen Argumente hat. Ich finde,
dreihunderttausend Sowjetsoldaten rund um die deutsche Hauptstadt sind ein sehr
gutes Argument.«
    Ich spüre plötzlich,
wie eine kalte Angst in mir hochkriecht.
    »Commissario?« Enzo steht wieder am Tisch und zupft mich am Ärmel. »Wir, also
Francesco, Giuseppe und ich: Wir wollen einen Vorschlag machen.«
    »Einen
Vorschlag?«
    »Es ist für la libertà , die Freiheit«, beteuert Enzo ernst, » e
c’è qualcosa di delicato .
Etwas heikel, du verstehst?«
    »Was habt
ihr vor?«
    Enzo hockt
sich zu mir und raunt mir ins Ohr: »Wie viele Italiener, was glaubst du, gibt
es in der Stadt? Zehntausend? Oder zwanzig? Und sie alle lieben den Westen.«
    »Ja und?«
    »Wir
brauchen Waffen.« Enzo holt tief Luft. »Du weißt, ich habe Strukturen. Gute
Strukturen. Ich kann besorgen Waffen für zehntausend Männer.«
    »Enzo, das
ist Irrsinn!«
    »Nix
Irrsinn, Commissario. Noi
combattiamo i comunisti. Noi combattiamo i sovietici. Al
diavolo con loro!« *
Er ballt kämpferisch die Faust und schüttelt sie. »Zur Hölle mit ihnen!«
    Ich
schlafe schlecht in dieser Nacht. Überall in der Stadt kommen finstere
Gestalten aus den Gullis der Abwasserkanäle und übernehmen die Macht. Vor dem
KaDeWe stehen Sowjetpanzer, und im Bundestag wird ein neuer Kanzler gekürt. Er
trägt einen russischen Militärmantel und hat eine Budjonny-Mütze auf dem Kopf.
Als er sich zur Kamera umdreht, sehe ich sein Gesicht: Es ist Siggi!
    Schreiend
fahre ich aus dem Schlaf.
    »Was ist
denn los, um Himmels willen!« Moni guckt immer noch Nachrichten.
    Die ganze
Nacht hindurch berichten Tagesthemen-Sondersendungen über den Putsch.
Entsprechend zerzaust und übermüdet wirken die Moderatorinnen Sabine Christiansen
und Eva Herman.
    ARD -Korrespondent Gerd Ruge scheint sich in Moskau derweil mit Wodka
wach zu halten. Vernuschelt spricht er von Panzern auf dem Manegenplatz.
Sondereinheiten des KGB haben das Stadtzentrum
abgeriegelt, in Leningrad und anderen größeren Städten der Sowjetunion dagegen
sei es zu Demonstrationen gekommen. Es fällt das Wort »Generalstreik«, und
wieder sieht man

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