Kreuzberg
Stimme, sondern auch das Leben geraubt.
»Du kriegst
meinen Rock«, sagte Janis und zog ihn sich aus. »Das macht den Kerl bestimmt
geil. Und die Haare trägst du offen.« Sie öffnete Giulia das lange, lockige
Haar. »So. Da kann er nicht widerstehen. Alles klar?«
»Geht so«,
flüsterte Giulia.
»Und immer
schön den Hintern schwenken. Heute ist Raver-Night im Golgatha. Da schleicht er
bestimmt irgendwo da draußen rum.«
Giulia
lächelte schwach und bekam noch einen roten Kussmund geschminkt. Dazu die
Wimpern und einen Lidstrich. Schminken war immer schwierig bei dem düsteren
Kerzenlicht hier unten.
»Keine
Angst, Süße. Wir sind bei dir, okay? Du bleibst immer schön auf dem Weg, wie
besprochen. Also nicht wild durch den ganzen Park tigern, klar? Nur den Weg am
Wasserfall. Sonst können wir für nichts garantieren. Und wenn der Kerl
auftaucht – einmal beherzt schreien, und schon sind wir da. Der kriegt
derart was auf die Fresse, davon erholt er sich nie.« Janis sah sie an und
verzog entzückt das Gesicht. »Oh Giulia, du siehst so süß aus! Zum Anbeißen,
echt. Da muss er drauf reinfallen. – Alles klar?«
Giulia
nickte.
»Dann raus
jetzt!«
Der
Park empfing Giulia mit seinen dunklen Schatten. In hohen Bäumen rauschte das
Laub, überall wisperte und knisterte es. Irgendwo schrie ein Pfau.
Die hören
sich echt gruselig an, die Pfaue, dachte Giulia fröstelnd. Dabei sind es so schöne
Tiere. Aber ihre Schreie klingen furchterregend. Vor allem nachts.
Schon als
Kind hatte Giulia im Dunkeln Angst gehabt. Später im Zirkus wurde es besser. Da
hatte sie gelernt, wie wichtig die Nacht ist, weil sie den Zauber des Lichts
verstärkt. Im Zirkus arbeiten sie viel mit Licht. Es gehört zur Show.
Giulia
liebte den Zirkus. Doch dann hatte sich der Dompteur an sie herangemacht. Der
arbeitete nicht nur mit Raubtieren, der war selber eins. Er wurde so
zudringlich, dass Giulia abends heulend an einer Bushaltestelle saß und sich
nicht mehr zurück in ihren Wohnwagen traute. Das war irgendwo in Niedersachsen,
in einem verregneten kleinen Ort zwischen Nordsee und dem Weserbergland. Und
drum herum Felder, die stark nach Gülle stanken.
Und
plötzlich war Peggy aufgetaucht. Das passende Landei zur Gegend. Peggy wollte
zur Autobahn und nach Berlin trampen, weil sie vom Vater immer verprügelt
wurde. »Ein Alkoholiker«, sagte sie, »immer, wenn er säuft, schlägt er uns.«
Peggy ging
es also auch nicht besser als Giulia, und so taten sich die Mädels zusammen.
Ein Tanklaster nahm sie nach Berlin mit. Der Fahrer hatte einen Bruder bei
einer Punkband in Neukölln, aber die wollten auch nur vögeln. Irgendwann wurde
es zu viel. Giulia zog auf den Speicher am Urbanhafen und Peggy in ein
besetztes Haus. In der Villa Kreuzberg hatten sie dann Janis, Annika und die
anderen kennengelernt und beschlossen, sich zu wehren. Die Hexen von Kreuzberg.
Eine Mädchengang, die sogar Jungs das Fürchten lehrte.
Annika
wurde zum Verhängnis, dass sie im Golgatha kellnern ging …
Dieses
Schwein!
Giulia
hatte jetzt genau die Stelle erreicht, an der Annika vergewaltigt worden war.
Keine hundert Meter vom Golgatha entfernt, man hörte die elektronischen Bässe
wummern, Raver-Night mit DJane Marusha und WestBam. Oder wie die immer alle
hießen …
Etwas
weiter vorn plätscherte der Wasserfall. Die Bäume standen hier viel dichter,
hohe Büsche und Sträucher säumten die Wege.
Und war es
heute nicht auch dunkler als sonst in den Nächten?
Giulia sah
kaum noch was. Es war echt total finster! Vielleicht lag es an der Zigarette,
die sie sich gerade angezündet hatte. Sie hatte nur noch den Lichtpunkt des
Feuerzeugs vor Augen, und sonst war alles schwarz.
Giulia
blieb stehen, rauchte und wartete, bis sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit
gewöhnt hatten.
Ihr Haar
bewegte sich leicht im Wind, sie spürte es an den nackten Schultern. Irgendwo
am Boden raschelte es. Das fehlte noch, dass ihr jetzt so eine pelzige Ratte um
die bloßen Beine strich. Giulia würde kreischen, und dann wären die andern
Mädels da, ohne dass irgendwas passiert war.
Nachts sind
alle Katzen grau – dieser Spruch stimmte jedenfalls. Allmählich sah Giulia
wieder ein paar Konturen: einzelne Blätter, Gestrüpp, die Kiesel auf dem Weg
und die Parkbank ein paar Meter weiter – und alles war grau. Dunkelgrau.
Selbst ihre
Arme waren grau, das ärmellose T-Shirt und ihr Haar. Nur die Glut an ihrer
Zigarette leuchtete erst dunkelrot, dann wurde sie
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