Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Waldegg, und ich erspare Ihnen den Spitznamen.«
»Welches ist Ihr wahres Gesicht, das linke oder das rechte?«
»Ich habe gelernt, mit beiden zu leben.«
»Bemerkenswert. Aber ich will Sie nun alleine lassen, Cornelius, mein Tag beginnt sehr früh. Schlafen Sie gut!«
»Sie auch, Mona.« Er blieb sitzen, bis oben ein weiteres Fenster hell wurde. Die Katzen waren inzwischen verschwunden und gingen ihren nächtlichen Aufgaben nach.
Den nächsten Tag verbrachte Cornelius mit dem Durchstöbern der zahlreichen Buchhandlungen des Viertels, und um die Mittagszeit kaufte er sich ein Brot und etwas Käse. Er schlenderte am Ufer der Seine entlang und betrachtet mit einem leichten Stich Heimweh – Mona hatte völlig richtig getippt – die Kathedrale auf der Insel. Notre Dame erinnerte ihn an den Dom und an den Verlust seines Vaters. Es tat weiterhin weh, er hatte so wenig Zeit mit ihm verbringen dürfen, so viel hatte er noch erzählen, ihm seine Zuneigung zeigen wollen.
Mit ausdruckslosem Gesicht wanderte er weiter und wäre beinahe über den Bettler gestolpert, der, bittend seine Hände erhoben, auf dem Boden kniete.
Bettler, das war Cornelius’ Eindruck, beherrschten das Stadtbild in erschreckendem Maße. Die gesellschaftlichen Umwandlungen des letzten Jahrzehnts hatten ihre Spuren hinterlassen, und Menschen waren verarmt, die zuvor in Wohlstand gelebt hatten. Auch die vielen Kriege hatten dazu beigetragen. Es gab Veteranen und Invaliden, die keiner Beschäftigung nachgehen konnten, Bedienstete von Adligen, die geflohen, aufs Land gezogen oder hingerichtet worden waren, Ordensleute, die ihre Klöster verlassen mussten und zu weltfremd waren, sich in der Welt zurechtzufinden. Und natürlich die, die schon immer vom Betteln gelebt hatten: alternde Prostituierte, ehemalige Sträflinge, glücklose Spieler und auch die ewigen Faulenzer.
Cornelius hatte sein Herz gegen sie verhärtet, er konnte keinem helfen, selbst wenn er seine gesamte Barschaft unter sie verteilte. Darum wollte er an diesem bärtigen, zerlumpten Mann vorbeigehen, doch dadurch, dass er ihm im Weg saß, fiel sein Blick auf das verhärmte Gesicht. Etwas in den Augen des Mannes ließ ihn innehalten. Der Bettler sah ihn an, überaus intensiv und eindringlich. Dann stand er auf und stürzte davon.
Er war nicht sehr schnell, Schwäche machte ihn straucheln, und Cornelius fing ihn mit einem festen Griff auf.
»Du hast mich erkannt!«
»Das Gesicht – das Zweigesicht!« Der Mann zitterte.
»Komm!«, forderte Cornelius ihn auf und schob den Mann in Richtung Kaimauer.
»Lass mich in Ruhe!«
»Nein. Setz dich. Hier, iss!« Cornelius zog ihn auf die Steinmauer und setze sich neben ihn. Er brach das Brot mitten durch und reichte den anderen die eine Hälfte. Der rang kurz mit sich, aber der Hunger siegte.
»Brest. Nummer siebenhundertvierundvierzig. Du warst einige Pritschen weiter, anfangs. Später hast du in der Metallwerkstatt gearbeitet. Seit wann bist du draußen?«
»Seit zwei Jahren«, kam die leise Antwort.
»Ich seit drei.«
»Ich weiß. Du hast deinen Weg gemacht. Manchen ist das Schicksal gnädig.«
»Ja, Kamerad. Ich habe unbeschreibliches Glück gehabt. Was ist dir passiert?«
Es war keine unübliche Geschichte, die Cornelius nun stockend erfuhr. Manchmal stellten sich ihm vor Grauen die Härchen auf seinen Armen auf. So hätte es für ihn auch aussehen können. Ohne Geld, ohne Hilfe nach der Entlassung in Brest, einer ihm fremden Stadt, von der er nichts kannte außer dem Bagno, hatte René mit Bettelei und einigen ungeschickten Diebstählen versucht, sich durchzuschlagen. Er wollte zurück nach Paris.
»Aber dann hier – meine Frau hatte sich scheiden lassen, hat wieder geheiratet. Meine Eltern wollten mich nicht sehen, mein Bruder warf mich aus dem Haus. Ich versuchte, Arbeit zu finden. Im Hafen ging das. Aber es war zu schwer. Ich wurde krank, konnte das Zimmer nicht mehr bezahlen...«
»Was für einen Beruf hast du gelernt? Dort oder vorher?«
»Kupferstecher hier. Dort, weil ich mit Metall umgehen konnte, Feinschlosser.«
Cornelius nickte. Es könnte Möglichkeiten geben. Aber nicht so, wie René aussah.
»Ich helfe dir. Aber ich gebe dir kein Geld.«
»Wie willst du mir sonst helfen? Du siehst doch...«
»Arbeit und Unterkunft.« Mit einem Mal grinste Cornelius, als er daran dachte, wie er bei seiner Heimkehr behandelt worden war. »Zuvor gehen wir baden.«
Beschämt sah René an sich herunter. »Dafür habe ich kein
Weitere Kostenlose Bücher