Kreuzdame - Köln Krimi
wollen.
»Das Jahresende ist kein Ende und kein Anfang«, stand auf dem vorletzten Kalenderblatt, »sondern ein Weiterleben mit der Weisheit, die uns die Erfahrung gelehrt hat (Hal Borland)«.
Es fiel mir schwer, mein Wissen für mich zu behalten. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich mitzuteilen. Anna, Katharina, Timo, Klaus … alles ging mir durch den Kopf. Musste ich nicht die Polizei informieren, die immer noch nach Katharina suchte? Oder sollte ich mit Martin reden? Doch Martin hatte sich nach dem Essen in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und saß an seinem Computer.
Ich setzte mich ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster, hinaus in die Dunkelheit. Zum ersten Mal dachte ich, dass Anna mich vielleicht angelogen hatte, dass diese ganze Geschichte zu absurd, zu aberwitzig war, um wahr zu sein. Meine Gedanken liefen um Jahre zurück, ich versuchte, mir Katharina ins Gedächtnis zu holen, ihre Gestik, ihre Sprache, ihr Lachen. Jetzt meinte ich mich zu erinnern, dass sie manchmal eine Bemerkung gemacht hatte, die nach Annas Sprüchen klang. Oder war es meine Phantasie, die mir das nun vorgaukelte?
Am Silvestermorgen rief ich Anna an. Ich fragte sie, wer den Wagen manipuliert hätte, die Bremsen bearbeitet oder was auch immer, jedenfalls das getan, was zum Unfall geführt haben sollte. Ich wartete eine lange Zeit, ehe sie endlich antwortete.
»Meine liebe Britta«, das hörte sich an wie eine Mutter, die ihrem Kind etwas erklären möchte, »woher soll ich das wissen? Es gibt so viele, die ihn hassten.«
»Und du?«, fragte ich leise.
»Ich?«, sagte Anna. »Ich bin Anna Bender, Witwe des verstorbenen Chirurgen Dr. Klaus Bender, und trauere um ihn. Zufrieden? Und guten Rutsch.«
Silvester feierten wir im »Dom Hotel«, nur Martin und ich. Wir speisten in gepflegtem Rahmen, tranken einen guten Rotwein, wir sprachen über die Zukunft und wie es weitergehen sollte, aber immer wieder kehrten wir zurück zu dem vergangenen Jahr, zu seinem Beginn, an dem noch niemand von uns hatte erkennen können, was es in sich tragen würde. Am Morgen hatten wir mit Charlotte gesprochen, mit Johannes und auch mit Karin und Karlheinz, aber es war keine Gemeinsamkeit aufgekommen, und vielleicht war das auch gut so. Um zwölf standen wir im ersten Stockwerk auf dem großen Balkon, jeder ein Champagnerglas in der Hand, und hörten die mächtigen Schläge vom Dicken Pitter, der großen Domglocke, die uns verkündete: »Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu.« Es hatte angefangen zu schneien, und das gab den Feuerwerkskörpern, die hoch und weit gegen den Dom prallten, einen sanften Schimmer, so als wäre das neue Jahr in weichere Farben getaucht als alles bisher Gewesene.
Martin nahm mich sehr fest in seine Arme und wünschte mir ein wunderbares neues Jahr, Gesundheit und Glück und viele Gemeinsamkeiten zwischen uns. Dann setzte er hinzu: »Max Frisch hat übrigens einmal gesagt: ›Krise ist ein produktiver Zustand, man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.‹«
Ich beschloss, ihm zu glauben, vertraute seinen Worten und entschied mich, das Gewesene ruhen zu lassen, das Entsetzen, die Trauer und das, was ich wusste. Dies war das Geschenk des neuen Jahres an mich, und ich wollte es annehmen.
»Zukunft braucht Herkunft«, diesen Satz von Odo Marquard hatte Rino früher oft zitiert, und damit hatte er recht. Die Gegenwart ist stets das Bindeglied zwischen Vergangenem und Zukünftigem. Uns bleibt nur, die Erfahrung im Jetzt als Lehrstunde für die Zukunft zu nutzen.
Kurz nach Silvester zogen Carolin und Lukas wieder zusammen.
»Wir lieben uns noch immer«, sagte Carolin, als sie ihre Sachen packte und zum zweiten Mal ihr Elternhaus verließ. Nun wollte sie zunächst Examen machen und dann erst eine Familie gründen. Sie war ruhiger geworden, reifer, und ich freute mich über diese Wendung.
Anna meldete sich nicht mehr. So oft ich bei ihr anrief und um Rückruf bat, ich hörte nichts von ihr. Eines Abends hielt ich es nicht mehr aus. Es war Sonntag, und wir hatten ausnahmsweise nichts vor. Ich hatte gekocht, und Martin holte eine zweite Flasche Rotwein aus dem Keller, entkorkte sie, kostete und goss ein. Da brach es aus mir hervor. War es der viele Wein oder die behagliche Gemeinsamkeit? Jedenfalls begann ich, Annas Geschichte zu erzählen, berichtete, wie sie zu Katharina geworden war.
Martin hörte gespannt zu. Als ich fertig war, sagte er: »Das ist ja ungeheuerlich! Entweder hat Anna sich das
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