Krieg der Sänger
Ofterdingen war schneller: Er hatte Irmgard mit
wenigen Sätzen erreicht, und noch ehe irgendein Befehl erfolgen konnte, auf ihn
zu schießen, hatte er das Mädchen mit einer Hand gepackt und mit der anderen
den Dolch gezogen und ihr an die Kehle gesetzt. Alle Visiere waren nun auf ihn
gerichtet, aber donnernd gab der Landgraf, um das Wohl seines Kindes besorgt,
den Befehl, die Armbrüste sofort wieder sinken zu lassen.
Unbehelligt kehrte Ofterdingen mit seiner Geisel – die sich nicht
wehrte, aber sichtlich fror – zurück zur Gruppe. Wolfram war schier rasend vor
Empörung.
»Bist du wahnsinnig geworden?«, schnaubte er. »Lass sie
augenblicklich gehen!«
»Kommt nicht infrage. Kann man sich ein besseres Pfand denken?«
»Lass sie gehen, bei meiner Seele, oder ich schneid dich in
Streifen.«
»Lass sie gehen!«, schrie nun auch der Landgraf, merklich
erschüttert. »Mein Kind hat nichts damit zu schaffen! Wenn du ein Ehrenmann
bist, Heinrich, lass sie gehen!«
»Du hast ihn gehört«, sagte Wolfram.
»Spar dir deinen Atem«, erwiderte Ofterdingen. »Und bleib mir vom
Leib, Wolf, sonst ritze ich sie. Ich bin kein Ehrenmann.«
»In Gottes Namen, tut ihr nichts«, flehte Agnes, die noch mehr als
Wolfram für Irmgard litt.
»Gib sie frei!«, rief Hermann erneut. »Gib sie frei, Ofterdingen,
oder, bei Gott, ich werde dich –«
»Töten?« , fragte Ofterdingen. »Angesichts
meiner Lage eine wenig wirkungsvolle Drohung, meint Ihr nicht auch? Stimmt mich
lieber milde, indem Ihr uns Johann übergebt.«
Hermann gehorchte unverzüglich. Die Fesseln des Singerknaben wurden
gelöst, und Johann konnte unbehindert zur Gruppe stoßen.
»Und jetzt lass sie gehen«, sagte Wolfram.
»Bin ich denn närrisch? Damit die uns totschießen?«
»Was hast du vor? Wir können sie unmöglich mitnehmen!«
»Ohne das Mädchen lassen sie uns nicht aus der Burg.«
»Mit ihr werden sie uns noch weniger lassen! Also lass sie gehen,
zum Teufel!«
»Erst wenn wir in Sicherheit sind«, entgegnete Ofterdingen. »Folgt
mir.«
Rückwärts ging Ofterdingen auf den Palas zu, wobei er die Klinge
nicht von Irmgards Hals nahm. Die anderen folgten ihm. Der Landgraf ließ sie
gewähren.
Die Magd, die auf Irmgard hatte achtgeben sollen, rannte schreiend
davon, als Ofterdingen die Tür zum Landgrafenhaus aufstieß. Als die gesamte
Gruppe im Haus war und der Riegel der Tür geschlossen, fragte Konrad: »Und
jetzt?«
»Welchen Raum können wir am besten halten?«
»Den Festsaal«, sagte Biterolf. »Er hat nur einen Eingang. Und wir
können die Treppe blockieren.«
»Ausgezeichnet. Da können sie sich ihre Armbrüste schenken.«
»Das ist keine Sicherheit, das ist eine Sackgasse«, widersprach
Wolfram. »Du kletterst auf einen Baum, um dem Bären zu entkommen!«
»Das ist nicht das Schlechteste«, sagte Ofterdingen. »Auf Bäumen
hatte ich einige meiner besten Ideen. – Keine Angst, Irmgard, dir geschieht
nichts. Du bist aus hartem Holz geschnitzt, nicht wahr?«
Er ließ den Dolch sinken, nahm das Mädchen bei der Hand und schritt
mit ihr durch das schmale Treppenhaus voran. Die anderen folgten ihm, wobei sie
jede Fackel, die sie passierten, aus ihrem Halter nahmen. Noch bevor sie das
oberste Stockwerk erreicht hatten, hörte man, wie die Thüringer unter den
wütenden Befehlen der Ritter damit begannen, gegen die Tür anzurennen.
Im Festsaal hatte sich seit ihrem letzten Zusammentreffen nichts
verändert. Noch immer waren Throne, Bänke und Tische so wie beim Wettstreit
angeordnet. Unter Wolframs Anleitung wurden einige der Bänke und Tische nach
draußen getragen und im Treppenflur aufgetürmt, um Schutz vor den Armbrüsten
der Angreifer zu gewähren, mit genug Lücken darin, eigene Bolzen abzuschießen.
Ofterdingen wandelte währenddessen mit bemerkenswerter Gelassenheit
durch den leeren Saal, fand dabei seine Fiedel, die man am Fuß des
Landgrafenthrones abgelegt und dort vergessen hatte, und prüfte, wie sehr sich
ihre Saiten in den drei kalten Tagen verstimmt hatten. Agnes nahm neben Irmgard
auf einer Bank Platz, um sie zu beruhigen, doch dem Mädchen hatte die
Geiselnahme kaum zugesetzt. Sie hatte zwei ihrer Püppchen dabei, einen
Sarazenen und einen Kreuzritter, die sie auf der Bank absetzte.
Sobald alles Nötige zu ihrer Verteidigung vorbereitet war, entließ
Wolfram das Mädchen endlich. Er bat sie um Verzeihung für den groben Angriff
des Ofterdingers und half ihr über den Schutzwall aus Bänken und Tischen. Als
sich
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